„Die Geschichten der anderen Seite hören“

In Nes Ammim geht es um Dialog und Begegnung zwischen Christen und Muslimen

Umgeben von jüdischen und arabischen Nachbardörfern, mit dem Blick zur Grenze zum Libanon im Norden, zum Bergland von Galiläa im Osten und unweit von Akko liegt Nes Ammim. Seine Anfänge als christliches Dorf in Israel gehen in das Jahr 1963 zurück. Damals hofften Christen aus den Niederlanden, aus der Schweiz, später auch aus Deutschland auf einen Neubeginn in ihrem Verhältnis zum Judentum.
Nach der Schoa gab es für sie nur ein Ziel: von den Juden zu lernen, auf jegliche Form von Judenmission zu verzichten und durch das eigene Leben und Tun als Christen in Israel „eine Brücke zum jüdischen Volk zu bauen“. Das schloss eine tatkräftige Unterstützung des noch jungen Staates Israel mit ein. Dazu sollten landwirtschaftliche Erträge aus der Zucht von Rosen und Avocados dienen – für viele Jahre war das ein erfolgreiches Projekt. Später entstanden in Nes Ammim ein Hotel, ferner ein Zentrum für Dialog und Lernen sowie eine Basilika, in der seither Gottesdienste gefeiert werden und interreligiöse Begegnungen stattfinden.
Doch im Laufe der Zeit hat sich das politische Klima in Israel verändert. Vorurteile, Angst und Abgrenzung prägen heute das Leben von arabischen und jüdischen Israelis. Nationalreligiöse und rechtsgerichtete Parteien bestimmen inzwischen die Politik des Staates Israel maßgeblich mit: Als umso wichtiger erweist sich die Dialog- und Studienarbeit in Nes Ammim.
Dazu gehören auch der interreligiöse Dialog und die Begegnung mit arabischen und palästinensischen Christen und Muslimen. Hier treffen sich verschiedene Friedensinitiativen, arabisch-jüdische Frauengruppen und Jugendliche: „In Nes Ammim haben sie sich zum Teil zum ersten Mal intensiv mit der Geschichte des Anderen befasst. Sie haben Geschichten gehört von ,der anderen Seite‘“, berichtet Katja Kriener, rheinische Pfarrerin und verantwortlich für das Dialogprogramm.
Ihr Mann, Tobias Kriener, ebenfalls rheinischer Theologe, leitet das Studienprogramm für die Volontäre. Die zumeist jungen Volontäre, die in der Regel aus Europa nach Nes Ammim kommen, arbeiten vor allem im Hotel- und Gästebereich. Das Studienprogramm ermöglicht ihnen Begegnungen mit Menschen in israelischen Siedlungen, in palästinensischen Flüchtlingslagern und in den besetzen Gebieten in der Westbank. Denn Nes Ammim „verharrt nicht in bequemer Neutralität, sondern lehrt: Für Palästinenser einzutreten, ohne zu einem Gegner Israels zu werden“ und „für Israel einzutreten, ohne die arabische oder muslimische Welt zu verteufeln“, so Rainer Stuhlmann, langjähriger Studienleiter und Vorstandsmitglied des deutschen Nes Ammim-Vereins.
Ein Teil der früher landwirtschaftlich genutzten Flächen wurde inzwischen für den Bau einer neuen Siedlung genutzt. Ausgehend von den guten Beziehungen zum jüdischen Nachbardorf Regba und zu den arabischen Nachbarn in Mazra’a hoffte man, eine jüdisch-arabische Siedlung neben dem alten Dorf Nes Ammim gründen zu können. Der überwiegende Teil der neuen Bewohner sind jüdische Familien.
Nur wenige arabische Familien haben bislang hier ein Haus gekauft. Zu ihnen gehört Yussef Mubarki, ein muslimisch-palästinensischer Lehrer, der früher mit seiner Familie in Mazra’a gewohnt hat. Er hat viele jüdische Freunde, die ihm sagen, er könne mit ihnen leben. „Ich frage sie, könnt ihr auch mit anderen Arabern leben. Darauf bekomme ich keine Antwort“, berichtet Mubarki. Gerade im Blick auf die Zukunft der eigenen Kinder liegt ihm daran, Kontakte zu schaffen zwischen jüdischen und arabischen Israelis. Denn für beide Seiten ist die Erfahrung der direkten Nachbarschaft in Nes Ammim etwas völlig Neues, wo Dialog und Begegnungen den Alltag bestimmen.
Für den westfälischen Pfarrer Lothar Becker, der an einem Pastoralkolleg in Israel und Palästina teilgenommen hat, geht es in Nes Ammim „nicht nur um Vergangenheitsbewältigung, sondern auch um engagierte Zukunftsgestaltung in Kenntnis und Würdigung der Vergangenheit“. Dabei gilt der motivierende Dreiklang: „nichts schwarzsehen – nichts schönreden – nichts totschweigen!“ So ist Nes Ammim ein Ort, wo Menschen jenseits der politischen Realitäten auf Frieden und Gerechtigkeit hoffen dürfen.

Christian Hohmann ist Regionalpfarrer im Amt für MÖWe und vertritt die Evangelische Kirche von Westfalen im Vorstand von Nes Ammim e.V.