Jedes Jahr an Heiligabend wird in den Kirchen die Weihnachtsgeschichte vorgelesen. Doch stimmt das eigentlich alles so, was dort erzählt wird? Simone Paganini, Professor für Bibeltheologie an der RWTH Aachen, forscht seit Jahren zur Weihnachtsgeschichte. Am 2. Dezember macht er im Bibelmuseum in Nürnberg einen „Faktencheck Weihnachten“.
epd: Herr Paganini, was fasziniert Sie so an der Weihnachtsgeschichte, dass Sie sich schon so lange mit ihr beschäftigen?
Simone Paganini: Die Weihnachtsgeschichte existiert seit ungefähr 2000 Jahren. Ich kenne keine andere Geschichte, die so regelmäßig erzählt wird und so regelmäßig Menschen fasziniert. Die Leute fallen jedes Jahr von Neuem auf sie rein. Es ist eine gewaltige, erfolgreiche Geschichte. Das hat mich als Wissenschaftler interessiert und das wollte ich mir genauer anschauen.
epd: Warum ist es denn so wichtig herauszufinden, was von der Weihnachtsgeschichte genau stimmt?
Paganini: Als Theologe und Bibelwissenschaftler merke ich, dass die Menschen immer weniger Lust auf Kirche und auf Religion im Sinne von geordneten religiösen Strukturen haben. Damit zusammen hängt auch immer weniger Lust auf die Bibel. Das finde ich extrem schade, weil unsere europäische westliche Kultur ohne die Bibel nicht denkbar ist. Die Art und Weise, wie wir denken, unsere Gesetzgebung, unsere moralischen Vorstellungen, haben ihren Ursprung in der griechischen Kultur und in der Bibel.
Wenn man gläubig ist, ist die Bibel natürlich ein heiliges Buch. Wenn man nicht gläubig ist, kann man mit diesem Buch genauso umgehen wie mit den griechischen Mythen: Man kann nach Mustern schauen, welche historischen Quellen erkennbar sind, aber vor allem danach, warum die Geschichten, die erzählt werden, für so viele Menschen und seit so langer Zeit so wichtig sind.
Das macht am Ende nicht nur kulturell reicher, sondern macht auch gläubige Menschen reifer. Man glaubt nicht weniger, weil man denkt, in der Weihnachtsgeschichte ist alles ein Fake. Im Gegenteil: Ich finde, man glaubt reifer und selbstbewusster.
epd: Was sind die größten Fake News in der Weihnachtsgeschichte?
Paganini: Was historisch sicher ist, ist, dass da irgendwann ein Kind geboren ist. Zu diesem Menschen – Jesus – haben wir römische und jüdische Quellen, die unabhängig voneinander berichten, dass er irgendwann getötet wurde – also muss er auch geboren worden sein.
Wie, wo, wann das passiert ist, welche Tiere dabei waren, ob Engel dabei waren – das gehört in die Kategorie Gründungsmythos. Es ist eine sinnstiftende Erzählung, die nicht erzählt wird, um etwas Wahres zu sagen, sondern um eine Identität zu begründen. Wenn wir das wissen, dann können wir schauen, welche Details von dieser Geschichte sind unglaubwürdig erfunden und welche sind glaubwürdig erfunden.
epd: Warum haben die Autoren der Evangelien Dinge dazuerfunden?
Paganini: Die Autoren wollten mit ihrer Geschichte ihre Leserinnen und Leser – in der damaligen Zeit waren es Hörerinnen und Hörer – mitnehmen. Deshalb verwenden sie Details in den Erzählungen, die bereits vorhanden waren, um ihre Hörer dort abzuholen, wo sie sind. Und das schaffen sie sehr gut.
Ein Beispiel: Wenn große Menschen geboren werden – und Jesus ist ein großer Mensch – dann passiert immer irgendwas im Himmel. Das wussten die Menschen damals von den Geburten von Alexander dem Großen oder Cäsar. Weil Jesus in der Nacht geboren wird, erscheint ein Stern. War dieser Stern ein Komet? Ist da historisch etwas dran? Darüber kann man ewig diskutieren. Es gibt Hinweise, die sagen, ja, in den Jahren sieben, acht vor Christus hat es sowas wie eine „große Konjunktion“ gegeben im Himmel, also Planeten, die besonders hell waren. Könnte das eine Erinnerung daran sein? Ja, muss es aber nicht.
Wenn große Persönlichkeiten geboren werden, gibt es immer die Botschaft, dass ihnen gehuldigt wird. Es kommen also Leute, die ihnen etwas Besonderes mitbringen. Und das passiert bei Jesus auch. Die Hirten kommen und dann die Weisen aus dem Osten, die aber weder zu dritt noch Könige, sondern wahrscheinlich persische Sterndeuter waren. Ist das glaubwürdig? Ja, durchaus.
Wenn größere Leute geboren werden, gibt es immer die Legende, dass sie sofort in Gefahr sind: Die Welt will sie nicht haben und es passiert irgendwas. Was passiert hier? Herodes bringt alle Kinder von Bethlehem um. Hat Herodes wirklich die Kinder von Bethlehem umgebracht? Sicher nicht. Das ist wirklich glatt gelogen. Aber für die Leute, die diese Geschichte lesen, macht es Sinn. Das sind nur drei Beispiele: Man könnte alles auf dieser Ebene erklären.
epd: Wann und wie ist die Weihnachtsgeschichte entstanden?
Paganini: Weihnachten als Fest entstand im vierten Jahrhundert, irgendwann um das Jahr 340. Es sind die Jahre, in denen das Christentum zu einer Staatsreligion wird. Weil der Kaiser Christ geworden ist, lassen sich die Menschen taufen, aber ohne viel über das Christentum zu wissen. Und dann entstehen Fragen: Wer war Jesus? Was hat er gemacht? Die Bischöfe und großen Theologen erklären, dass Jesus Gott und Mensch war, aber mit extrem komplexen Begriffen. Die einfachen Menschen konnten damit kaum etwas anfangen.
Und genau in dieser Zeit, wo sehr viele Menschen Fragen zu Jesus hatten, entstand das Weihnachtsfest. Diese Geschichte sagt: Jesus ist nicht komplex. Es ist ein Gott, der ein Baby geworden ist. Die Botschaft ist wunderschön und einmalig. Das gab es vorher noch nicht. Auch in der römisch-griechischen Religion haben Götter Kinder mit Frauen gezeugt. Diese Kinder waren aber nur besondere Menschen, manchmal Helden, einmal, im Fall von Herakles, ein Halbgott. Aber kein einziges Kind ist genauso Gott wie der Vater. Das ist nur Jesus.
epd: Was ist heute der Kern der Weihnachtsgeschichte für Sie?
Paganini: In meinem Buch „Von wegen Heilige Nacht! Der große Faktencheck zur Weihnachtsgeschichte“ nehme ich die Geschichte komplett auseinander: Jesus wurde nicht am 25. Dezember geboren, es war nicht kalt, Josef war kein Zimmermann, Maria war keine Jungfrau, Ochs und Esel existierten nicht, Jesus ist nicht in einem Stall geboren. Man hat eine Geschichte ausgeschmückt mit jeder Menge Details, die man alle wegtun kann.
Was aber am Ende bleibt, ist, dass Gott ein Baby geworden ist und das fasziniert die Menschen immer noch. Man muss nicht in die Kirche gehen, man muss nicht an den Strukturen festhalten – aber die Vorstellung, dass wir nicht allein sind, das Gott entscheidet, unsere Existenz zu teilen und zwar als Baby, das ungeschützteste, das es überhaupt gibt – ich glaube, das ist das Zentrum.
epd: Ihr Vortrag in Nürnberg findet im Rahmen einer Ausstellung statt, die heißt „Die Bibel lesen – zwischen Deuten und Verdrehen“. Wie wörtlich sollte man die Bibel denn überhaupt nehmen?
Paganini: Die Bibel ist eine gewaltige Erfolgsgeschichte, weil sie auf vielen verschiedenen Ebenen gelesen werden kann. Man kann sie als Glaubensbuch lesen oder, so wie ich, auf der Suche nach historischen Quellen oder um zu rekonstruieren, wie die Texte entstanden sind.
Die Frage ist nicht, ob die Bibel wahr ist. Die Frage ist, WIE die Bibel wahr ist. Auf der historischen Ebene muss man sagen: Nein, das Meiste in der Weihnachtsgeschichte ist nicht wahr. Aber die historische Ebene ist nicht die einzige Wahrheit, die wir haben. Wenn ich diese Geschichte mit den Augen eines Gläubigen lese, dann tut es mir auf der Glaubensebene nichts, wenn ich sage, nein, Jesus ist nicht in einem Stall geboren. Mein Glauben kann dadurch sogar reifer werden. Und für Menschen, die nicht gläubig sind, ist es wichtig zu verstehen: Diese Autoren erzählen keine Lügen, um mich zu überzeugen, sondern sie erzählen eine Geschichte, die Sinn macht.
Die Weihnachtsgeschichte ist wahr, weil die Menschen sie für sich wahr machen. Das finde ich einen sehr schönen Gedanken. (3762/29.11.2025)