Viele der herausragenden evangelischen Mystiker waren keine Akademiker, sondern „Laien“, oft Handwerker: der Schuhmacher Jakob Böhme, der Leineweber Gerhard Tersteegen und der Müller Michael Hahn zum Beispiel. Eine gleichförmige körperliche Tätigkeit scheint das innere Gebet zu unterstützen. Beides erfordert Achtsamkeit.
Obwohl diese Gottsucher vielerlei gelesen hatten, waren sie Skeptiker im Blick auf theologische Konstrukte und die dogmatischen Streitereien innerhalb der Theologenzunft. Ihre Zugänge zu Gott waren anders geartet: Schweigen und Lauschen, das Buch der Natur studieren, Träume und Visionen, das Wesentliche mehr im Herzen erfassen und bewegen als mit dem Verstand.
Schweigen, lauschen, mit dem Herzen erfassen
Jakob Böhme nimmt unter den evangelischen Mystikern eine Sonderstellung ein. Der romantische Literaturhistoriker Friedrich Schlegel sagt, Böhme sei „ohne Zweifel der umfassendste, reichhaltigste und mannigfaltigste von allen Mystikern“, und für Friedrich Wilhelm Hegel ist Böhme trotz seiner „barbarischen Sprache“ „der erste deutsche Philosoph“.
Jakob Böhme wird 1575 in Alt-Seidenberg bei Görlitz als viertes Kind einer Großbauernfamilie geboren. Beim Viehhüten macht der Bauernbub seine erste mystische Erfahrung: Er entdeckt eine Höhle und darin ein großes Henkelgefäß voller Gold. Geschockt läuft er davon. Als er seinen Kameraden den Fund zeigen will, findet er den Eingang nicht mehr. Erst später versteht er diese Vision als Hinweis auf seine spirituelle Lebensaufgabe, himmlisches Gold zu finden und den Menschen zu zeigen.
Der schwächliche Knabe kommt in eine Schuhmacherlehre. 1599 lässt sich Böhme nach einigen Wanderjahren in Görlitz nieder, wo er ein Marktgeschäft erwirbt und Katharina Kuntzschmann heiratet, die vier Söhne gebiert. Zu Beginn des Jahres 1600 ereilt ihn das bedeutsamste seiner mystischen Erlebnisse: Er sitzt in seiner Stube, sein Blick fällt auf einen Zinnkrug, in dem sich die Sonne spiegelt. Bei dem Anblick erlebt er eine innere Entrückung. Ihm ist so, als könnte er plötzlich alle Dinge von „innen“ erfassen, in ihrem Wesen. Als er wieder zu sich kommt, muss er die enge Stube fluchtartig verlassen und ins Freie stürzen. Aber draußen hört die Vision nicht auf, sondern verstärkt sich und währt eine volle Woche. Es ist ihm, als könne er jedem Baum und jedem Grashalm ins Herz sehen. Später bekennt er, er habe „in einer Viertelstunde mehr gesehen und erkannt“, als wenn er „viele Jahre auf hohen Schulen“ gewesen wäre: „Ich sah und erkannte das Wesen aller Wesen, den Grund und Urgrund,…die Geburt der Heiligen Dreifaltigkeit…“.
Alle Dinge von „innen“ erkennen
Lange schweigt der Schuster und meditiert seine Erfahrungen. Erst 1612 schreibt er „Aurora oder Morgenröte im Aufgang“ nieder. Er gibt den Text Freunden, die ihn ohne sein Wissen verbreiten. Der Görlitzer Hauptpastor Gregor Richter, bekommt eine Kopie, überfliegt sie und hält in Anwesenheit des Schusters eine hasserfüllte Predigt, in der er vor dem „falschen Propheten“ Böhme warnt, um dessentwillen Gottes Zorn gegen die Stadt entbrennen werde. Als Böhme nach dem Gottesdienst zu Richter geht und ihn bittet, ihm seine Irrtümer zu zeigen, brüllt der ihn an: „Hinweg von dir Satan! Zur Hölle!“ Richter veranlasst, dass Böhme schon einen Tag später vor den Magistrat geladen und der Stadt verwiesen wird. Aber wenig später ruft ihn die weltliche Obrigkeit zurück. Er muss sich verpflichten, nichts mehr zu schreiben, sagt zu und hält sechs Jahre durch.
1618 überreden ihn Freunde, endlich wieder zur Feder zu greifen. Er gibt die Werkstatt auf und eröffnet einen Garnhandel, den vor allem seine Frau betreibt, damit er literarisch arbeiten kann. Jedes seiner Werke übertrifft das vorige an Tiefe und Klarheit. Aber alle kursieren nur als Kopien. Erst 1624 erscheint „Der Weg zu Christo“ als anonymer Druck. Sofort tritt Hauptpastor Richter erneut auf den Plan, und setzt den Magistrat unter Druck, den „Ketzer“ auszuweisen. In einer besonnenen „Schutzrede“ verteidigt sich Böhme – vergebens. Freunde vermitteln ihn nach Dresden, wo er dem Kurfürsten vorgestellt wird. Der ist tief beeindruckt und arrangiert ein Gespräch mit drei führenden Theologen, die Böhme mit Respekt und Wohlwollen begegnen und ihn von allen Anklagen freisprechen.
Im selben Jahr erkrankt er schwer. In der Nacht vor seinem Tod hat er nochmals ein mystisches Erlebnis: Er bittet die Angehörigen, die Tür zum Nebenzimmer zu öffnen, denn von dort erklinge eine überaus liebliche Musik. Die Familie vermag diese Engelstöne nicht zu vernehmen, aber er tröstet die Seinen: „Nun fahre ich ins Paradies“ – und entschläft friedevoll.
Kein Geist ohne Leiblichkeit
Schon in seiner Schrift „Aurora“ erklärt Böhme „die ganze Natura“ zu seiner Lehrmeisterin. Gott ist in der gesamten Schöpfung gegenwärtig, in der Gut und Böse miteinander ringen. Das weibliche Prinzip der Weisheit (Sophia), das Böhme personal versteht, steht für Herz, Leib und Seele und ist die notwendige Ergänzung zum rationalistischen männlichen Prinzip. Es gibt keinen Geist ohne Leiblichkeit und keinen Leib ohne eine geistige Innenseite: „Der Leib ist der Seelen Spiegel und Wohnhaus, und ist auch eine Ursache, dass die pure Seele den Geist verändert.“ Die Bibel, die Böhme über alles liebt, könne man nur verstehen, wenn man vom Geist Gottes innerlich berührt ist, sonst bleibe sie ein Buch mit sieben Siegeln: „Ich trage in meinem Herzen nicht erst Buchstaben zusammen aus vielen Büchern, sondern ich hab den Buchstaben in mir. Liegt doch Himmel und Erden mit allem Wesen, dazu Gott selbst, im Menschen.“
