Diakonie-Chef: Pflegeversicherung ist an Kipp-Punkt angekommen

Wird die Pflege in Zukunft von den Pflegebedürftigen kaum noch zu bezahlen sein? Was der niedersächsische Diakonie-Chef Hans-Joachim Lenke vorschlägt.

Belastungen für pflegende Angehörige nimmt immer weiter zu
Belastungen für pflegende Angehörige nimmt immer weiter zuImago / Westend61

Der niedersächsische Diakonie-Chef Hans-Joachim Lenke hat sich dafür ausgesprochen, die Pflegeversicherung stärker über Steuern zu finanzieren. „Es braucht mehr Steuergeld im System“, sagte Lenke in einem Gespräch mit dem Evangelischen Pressedienst (epd): „Ich weiß, das hört die Politik nicht gerne, aber ich glaube, dass es nicht anders gehen wird.“ Denn sonst werde die Pflege in Zukunft von den Pflegebedürftigen kaum noch zu bezahlen sein: „Wir sind an einem Kipp-Punkt angekommen.“

Ihm sei klar, dass es auch in anderen wichtigen gesellschaftlichen Bereichen einen hohen Investitionsbedarf gebe, sagte Lenke. Deshalb halte er die Spardiskussion mancher Politiker für falsch. „Wir müssen auf der Haben-Seite mehr Einnahmen generieren, zum Beispiel über eine Erhöhung bei der Vermögens- oder Erbschaftssteuer“, forderte Lenke, Vorstandssprecher des Diakonischen Werkes evangelischer Kirchen in Niedersachsen.

Eigenanteile in der Pflege schon jetzt für viele Menschen „fast unfinanzierbar“

Schon jetzt seien die Eigenanteile in der Pflege für viele Menschen „im Grunde fast unfinanzierbar“, sagte der Theologe und Sozialexperte: „Wir sprechen im Bundesdurchschnitt von mehr als 2.800 Euro an Eigenanteilen. Wir wissen aber aus unseren diakonischen Einrichtungen, dass die Statistik hinterherhinkt. Wir bewegen uns in Niedersachsen bei unseren Einrichtungen in der Zwischenzeit schon in den Bereichen von 3.500 bis 3.800 Euro.“

Die durchschnittliche Rente von Männern in Niedersachsen liege demgegenüber bei 1.344 Euro. Frauen kämen im Schnitt auf eine Rente von 741 Euro: „Damit ist klar, was vielen älteren Menschen nach einem Arbeitsleben bevorsteht, nämlich der Antrag auf Sozialleistung.“ Hinzu komme ein gravierender Personalmangel in der Pflege: „Ich sehe nicht mehr, dass jede pflegebedürftige Person in Zukunft noch eine hauptamtliche Fachkraft hat, die sie daran erinnert, dass sie ihre Tabletten nehmen muss.“

Hans-Joachim Lenke: Pflegeversorgung neu denken

Lenke unterstrich: „Wir müssen bei der Pflegeversorgung insgesamt ganz neu denken.“ Derzeit gebe es ein Pflegesystem, das in Versorgungsverträgen, in starren Vergütungssystemen mit Leistungskomplexen denke und nicht vom Menschen und den Bedarfen her. „Das muss sich grundlegend ändern, auch um das bisherige Geld effizienter einzusetzen.“

Bisher sei die Pflegeversicherung als Teilkasko-Versicherung angelegt. Sie übernehme einen Sockelbetrag, und alle darüber liegenden Kosten müsse die pflegebedürftige Person bezahlen. „Das bedeutet für die zu pflegende Person eine enorme Kostenunsicherheit. Deshalb fordern wir, die Pflegeversicherung zu einer Versicherung mit einem begrenzten Eigenanteil umzubauen.“

Seit vielen Jahren schon werde eine legislaturübergreifende Pflegereform von der Bundespolitik auf die lange Bank geschoben, kritisierte Lenke. Es fehle der Mut, hier etwas politisch verändern zu wollen. „Wenn das Thema nicht grundlegend in Angriff genommen wird, wird die Pflege tatsächlich unbezahlbar“, sagte der Diakonie-Chef: „Und zwar für die Mehrheit der Bevölkerung in Deutschland.“