„Der Staat Israel hat versagt“
Der israelischer Historiker Moshe Zimmermann gilt schon lange als Kritiker der aktuellen rechts-religiösen Regierungskoalition von Israels Ministerpräsident Benjamin Netanjahu. Nach dem Angriff der Hamas-Terroristen wirft er dem Staat Israel vor, nicht genug zum Schutz seiner Zivilbevölkerung getan zu haben – und hält die geplante Bodenoffensive der israelischen Armee in Gaza für brandgefährlich. Er appelliert an die Politik und die Kirchen in Deutschland, den Nahost-Friedensprozess voranzubringen.
epd: Herr Zimmermann, wie erleben Sie am dritten Tag des Hamas-Angriffs auf Israel die Menschen und ihre Reaktion?
Zimmermann: Mit der Zeit sitzt der Schock immer tiefer. Die Menschen haben begriffen, was passiert ist. Sie bekommen immer mehr Informationen über die Ereignisse am Samstag. Deswegen ist der Schockeffekt umso gravierender. Die Leute stellen Fragen und versuchen gleichzeitig mit den Geschehnissen zurechtkommen und darauf zu reagieren. Die meisten beschäftigt die Frage, was in und um Gaza herum mit der Bevölkerung passiert. Es wird versucht, einen Schulterschluss vorzutäuschen, um gemeinsam gegen die böse Hamas vorzugehen. Es wird jedoch nicht lange dauern, bis der Zwist, der die israelische Gesellschaft maßgeblich charakterisiert, wieder zum Vorschein kommt.
epd: Bedeutet dieser Angriff eine Re-Traumatisierung der israelischen Bevölkerung?
Zimmermann: Dieser Angriff ist die schlimmste Katastrophe, wenn man ihn aus der zionistischen Bewegung heraus betrachtet. Die zionistische Bewegung ist entstanden, um für die Juden einen sicheren Ort auf der Welt zu schaffen. Zum ersten Mal ist eine so große Zahl an Zivilisten in einem Terroranschlag umgebracht worden – auf dem Territorium von Israel. Der Zionismus, der Staat Israel, hat versagt. Die Menschen realisieren das langsam, und werden es wahrscheinlich in den nächsten Wochen noch weiter tun.
epd: Zeichnen sich innenpolitischen Folgen ab? Ist die gegenwärtige Regierung handlungsfähig und hat sie noch den notwendigen Rückhalt in der Bevölkerung?
Zimmermann: Diese Regierung ist genauso handlungsfähig wie vorher. Es ist eine zerstrittene und rechtsorientierte Regierung, die nicht weiß, was die eigentlichen Ursachen des Angriffs sind. Die Regierung bekommt jetzt Unterstützung von außen. Die Repräsentanten der Opposition werden sich anschließen, um in dieser Zeit das Land zu retten. Es ist jedoch absehbar, dass diese Regierung – die inkompetenteste Regierung in der Geschichte Israels – zusammenbrechen wird. Sie hat ein Jahr lang gezeigt, dass sie die falschen Prioritäten setzt und für die Bevölkerung und ihre Interessen die schlimmste Regierung seit der Staatsgründung ist.
epd: Viele teilen Ihre Sorge, dass Bodentruppen in den Gazastreifen einmarschieren. Wie könnte eine Alternative aussehen? Was wäre aus ihrer Sicht jetzt geboten? Was sollte geschehen?
Zimmermann: Die Alternative, von der ich ausgehe, ist selbstverständlich chancenlos. Die automatische Reaktion dieser Regierung ist es, draufzuhauen – oder mit den Worten einiger Minister, „den Gazastreifen platt zu machen“. Das wird die erste Reaktion sein, auch wenn es das Leben der Geiseln in Gaza kosten wird. Rache und Bestrafung der Palästinenser sind wichtiger als alles andere. Die Alternative zu diesem Vorgehen ist, sich mit der Unterstützung von anderen Staaten um die Rettung der Geiseln zu sorgen. Das ist deswegen so wichtig, weil die in Geiselhaft genommenen Zivilisten von Israel verraten worden sind. Israel war nicht in der Lage, diese Menschen zu beschützen. Die wichtigste Aufgabe des Staates ist, Zivilisten zu beschützen. Diesen Schutz hat es nicht gegeben, daher ist jetzt zentral, alles zu versuchen, um die schutzlosen Zivilisten wenigstens zu retten. Diese Überlegung ist jedoch völlig irrelevant. Die israelische Regierung denkt ganz anders.
epd: Verstehe ich Sie richtig, dass Sie die Hoffnung auf eine Rettung der Geiseln zunehmend für unwahrscheinlich halten?
Zimmermann: Es wird bestimmte Versuche geben, mithilfe des Militärs die verschleppten Geiseln zu befreien. Wir wissen aber aus der Vergangenheit, dass derartige Versuche besonders kompliziert sind. Viele Bemühungen blieben in der Vergangenheit erfolglos. Wir können nicht davon ausgehen, dass die Rettungsaktion jetzt erfolgreicher sein werden als in der Vergangenheit. Ich hoffe sehr, dass einige der Geiseln gerettet werden können. Die Hoffnung, dass alle knapp 150 im Gaza-Gebiet gefangen gehaltenen Geiseln befreit werden, ist leider eine Illusion.
epd: Welche Erwartung haben Sie an die deutsche Bundesregierung? Haben Sie welche?
Zimmermann: Ich hatte Erwartungen. Es war die Aufgabe der deutschen Regierung und von Europa, mehr zu tun in den letzten zehn Jahren, um die Verhandlungen zwischen Israel und der palästinensischen Autonomiebehörde auf den Weg zu bringen. Die israelische Taktik ist, die Friedensverhandlungen aufzuschieben, weil sie vor allem daran interessiert ist, die Siedlungen auszubauen. Wenn man Frieden in dieser Region haben will, muss man eben über Frieden verhandeln. Wenn über Frieden nicht verhandelt wird, beginnt die Zeit der Terroristen. Die grausamen Hamas-Terroristen haben gezeigt, worauf sie sich zehn Jahre lang vorbereitet haben. Der Angriff hätte vielleicht vereitelt werden können, wenn Israel während dieser Zeit Friedensverhandlungen geführt hätte. Das führt mich zu Ihrer Frage zurück. Die deutsche Regierung und Europa haben in den letzten zehn Jahren weggeschaut und sind nun überrascht. Deutschland hätte früher mehr tun können. Das ist ein Versagen auch der deutschen Regierung mit Frau Merkel beginnend und der Ampelregierung in ihrer Fortsetzung.
epd: Was kann die deutsche Regierung jetzt aus Ihrer Sicht Angemessenes tun?
Zimmermann: Die Regierung muss jetzt Israel unterstützen – gemeint ist das „wahre“ Israel, also die Menschen in Israel, nicht die israelische Regierung. Es ist wichtig, dass Deutschland auf der Seite der israelischen Bevölkerung steht. Deutschland muss sich dafür einsetzen, in Israel etwas in Bewegung zu bringen, und zwar nicht durch mehr Krieg und einer Intensivierung der Kriegshandlungen, sondern durch Friedensbemühungen oder eine Regelung zwischen Israel und Palästina. Jetzt ist die Lage schwieriger als noch vor zehn Jahren. Mit der Zeit schwindet die Hoffnung auf Frieden zwischen Israel und den Palästinensern. Umwege über Saudi-Arabien oder andere Verträge wie die Abraham-Abkommen führen nicht nolens volens zu Frieden zwischen Israel und Palästina. Ohne Friedensverhandlungen zwischen Israel und Palästina haben Terroristen und Extremisten im palästinensischen Lager automatisch Rückenwind. Die Folge ist ein Strudel von Gewalt und Gegengewalt.
epd: Frieden ist auch das Anliegen christlichen Kirchen in Deutschland. Was erwarten Sie von den Kirchen?
Zimmermann: Ich habe keine konkreten Erwartungen an die Kirchen als Organisation. Wir erwarten von europäischen Christinnen und Christen, die aus der Vergangenheit lernen wollen, dass sie sich für den Frieden einsetzen. Slogans reichen dafür nicht aus. Ich wünsche mir, dass die Kirchen auf die Politik Druck ausüben, damit sie mehr tut, als sie bisher getan hat. Es geht hierbei um die Zivilgesellschaft. Die Zivilgesellschaft setzt die Ziele für die Politik. Ein Ziel der Politik lautet, Israel als Teil der deutschen Staatsräson zu aktivieren. Die Kirchen können dazu beitragen, dass die deutschen Bemühungen für Frieden im Nahen Osten in Bewegung kommen. (00/3288/10.10.2023)