Der Schutzengel trug eine Nazi-Uniform

Die Jüdin Tanya Kagan-Josefowitz hat durch einen Schutzengel in Nazi-Uniform den Holocaust überlebt. Mit ihrer Geschichte haben sich Nordener Schüler befasst.

Die Schüler während ihrer Recherche
Die Schüler während ihrer RecherchePrivat

Norden. Die achtjährige Tanya Kagan liegt an einem Abend im März 1938 in ihrem Bett in Worms. Aus dem Nebenzimmer hören sie und ihr Bruder die Eltern und ihre Gäste lachen. Dazu mischt sich das Klackern der Stiefel der Gestapo, die wie jeden Abend auf der Straße patrouillieren. Als die Schritte verstummen und die Türglocke schellt, liegen die Kinder in ihren Betten „vor Furcht gleichermaßen eingefroren und gelähmt“.

So beschreibt die russische Jüdin Tanya Kagan-Josefowitz, die heute in Genf lebt, den Abend, der ihr Leben veränderte. Die Gestapo übergab damals einen Brief, in dem die Familie aufgefordert wurde, binnen zehn Tagen Deutschland zu verlassen. Andernfalls würden sie deportiert.

„Unser weiches, kuscheliges Heim war plötzlich ein Angst machender Ort geworden, und alles schien auseinanderzufallen“, erinnert sie sich. Der Vater reiste sofort Richtung Amerika. Die Mutter und die beiden Kinder kamen nach. In dem Buch „I Remember – Ich denke an …“ schildert Kagan-Josefowitz ihre Ausreise aus Deutschland mithilfe eines „Schutzengels“ in Nazi-Uniform. Die Flucht führt sie über Frankreich nach „Amerika, ins Land der Freien“.

Passagierlisten untersucht

Dort tauchten die Kinder ein „in den American Way of Life wie Fische ins Wasser, und ich war im siebten Himmel“, schreibt Kagan-Josefowitz. Doch 30 Mitglieder ihrer Familie kamen im Holocaust ums Leben. Sie selbst heiratete, lebte als Künstlerin in den USA, später auch in London und Genf. Nach dem Krieg versuchte die Familie vergebens, den Schutzengel in Uniform zu finden.

Ihre Erinnerung habe sie aufgeschrieben, um an die unbesungenen Helden und die freundlichen, großzügigen Menschen in der Welt zu erinnern. Und ihre Geschichte wird weitergetragen. Auf Initiative von Elke Scheiner, einer Freundin der heute 91-jährigen Autorin, hat Jörg W. Rademacher das Buch herausgegeben.

Rademacher hat als Lehrer am Nordener Ulrichsgymnasium den Text mit seinen Schülern im Englisch-Unterricht bearbeitet. Sie untersuchten Stammbäume und Schiffspassagierlisten, um mehr über die Flucht der Familie Kagan zu erfahren. Vor einem Jahr, zu Anne Franks 90. Geburtstag, organisierte Rademacher in der Schule neben einer Anne-Frank-Ausstellung eine Lesung mit Elke Scheiner sowie eine Plakat-Ausstellung einer neunten und zehnten Klasse.

Ausstellung verschoben

Die Ausstellung wurde ergänzt von einem Video, in dem Tanya Kagan-Josefowitz in Genf Fragen der Norder Schüler beantwortet. Rademacher wollte in diesem Jahr das Thema fortführen. Geplant war die Ausstellung „A life for birds“ mit Bildern von Kagan-Josefowitz, die jetzt verschoben werden muss.

Die Künstlerin wurde vier Wochen vor Anne Frank geboren. Beide mussten als Kinder fliehen. Doch nur eine habe das Glück gehabt, zu überleben, ihre Geschichte in Buchform und ihre Kunstwerke als Katalog gedruckt zu sehen, so Rademacher.

Der Englischlehrer befasst sich seit Jahren mit dem Thema Shoah, hat dazu viele Texte ins Deutsche übersetzt, Zeitzeugen befragt und Begegnungen organisiert. Das Buch widmet er „den großzügigen Menschen, die den Mut haben, im Angesicht offenkundiger Gefahr ihre Ängste zu besiegen, um anderen angesichts drohender Unterdrückung zu helfen“.

Buch-Tipp
Jörg W. Rademacher (Hg.), Tanya Josefowitz:
I Remember – Ich denke an …
2019, 236 Seiten, 22,- Euro.

Das Buch kann in der Evangelischen Bücherstube bestellt werden.
Die Evangelische Bücherstube gehört zur Evangelischen Zeitung.