Der natürliche Lebensraum des Kiebitzes schwindet

„Kiwitt, Kiwitt“ – der Zwitscherlaut des Kiebitzes ist selten geworden. Der Vogel des Jahres 2024 mit dem typischen Häubchen auf dem Kopf ist vom Aussterben bedroht. Naturschützer beobachten einen Rückgang der Vogelart um 88 Prozent in Deutschland zwischen 1992 und 2016.

„Solche Sturzflüge machen andere Ackervögel ebenfalls mit“, sagte der Fachbeauftragte für Vogelschutz beim Naturschutzbund Baden-Württemberg (NABU), Stefan Bosch, dem Evangelischen Pressdienst (epd). Ackervögel wie der Kiebitz sind Bodenbrüter. Ihre Eier legen sie in feuchten Wiesen, Heide oder Mooren ab.

Niederungen wie das Rheintal sind die natürliche Landschaft des Vogels. Straßenbau, Industrieansiedlungen, Kiesabbau sowie die Störung durch den Menschen haben in 30 Jahren den Lebensraum der Bodenbrüter verdrängt. „Immer mehr Wiesen wurden zu Ackerland, selbst die Randstreifen fehlen heute“, sagt Ornithologe Bosch.

Der 150 bis 350 Gramm schwere, 30 Zentimeter lange Kiebitz beeindruckt durch sein glänzendes Gefieder und seine Flugakrobatik während der Balzflüge. Die Flügel kann er 85 Zentimeter weit ausspannen. Sein lässiger Flügelschlag, der in der Balz wie ein Lappen nach unten schlägt, brachte dem Vogel im Englischen den Namen „lapwing“ ein.

Als „Muttergottes Taube“ kommt der Kiebitz, ähnlich der weißen Taube, in alten Sagen christlicher Kulturkreise vor. Zwischen dem Tod des Menschen und dem Vogel gibt es danach eine Verbindung. Den Glauben an „Seelenvögel“ kennen viele Kulturen. Mythische Vögel kündigen den Tod an, begleiten den Toten ins Jenseits oder stehen für eine Botschaft der Seele des Verstorbenen.

Der Förster Rudolf Aloys Niehaus aus Rheine (Nordrhein-Westfalen) hat zu dem Mythos „Kiebitz“ ein Gedicht verfasst, in dem es heißt: „Als Todesvogel war er verschrien, sollt doch jeder mit ihm gehen ohne Wiederkehr (…) so fliegt der Vogel weiter zwischen Welten und Gezeiten (…) in Moore und auch Wiesen, stets bereit.“

Hat er einen geeigneten Platz gefunden, legt der Kiebitz nach der Balz im März vier bis fünf Eier ab. Die Brut dauert rund 20 Tage. Dann verlassen die jungen Nestflüchter die Niststätte. Bis zu fünf Nachgelege sorgen – wie ein vorsorgliches „Back-up“ der Natur – dafür, dass die Vogelart trotz Fraß-Feinden wie dem Fuchs überlebt.

Zwischen 42.000 und 67.000 Kiebitz-Paare gibt es Schätzungen zufolge noch in Deutschland. Die Mehrzahl siedelt an der Küste in Norddeutschland, im Osten Deutschlands sowie im Voralpenland (Bayern). In Baden-Württemberg leben die meisten Paare in der Rheinebene.

Das Regierungspräsidium Karlsruhe fördert Wiederansiedlungsprojekte unter anderem in der Saalbachniederung bei Hambrücken (Kreis Karlsruhe). Die Not mancher Kiebitze, einen geeigneten Brutplatz für ihr Gelege zu finden, ist teilweise groß. Im Rahmen des Projektes werden die Eier im Zoo Karlsruhe ausgebrütet, die halbwüchsigen Küken in einer Auswilderungsvoliere großgezogen und nach fünf bis sechs Wochen in die Freiheit entlassen.

Eine Trendumkehr deutet ein Wiederansiedlungsprojekt im Regierungsbezirk Tübingen an. Die Zugvögel kehrten nach dem Winter erneut in ihre Brutgebiete im Ammertal bei Tübingen, im Naturschutzgebiet Gedüngtes Ried sowie am Neubrunnen bei Hundersingen zurück.

Um dem Aussterben der Agrarvögel entgegenzuwirken, fordert der Landesvorsitzende des NABU, Johannes Enssle, von der grün-schwarzen Landesregierung, das Versprechen eines Bodenbrüterprogramms aus dem Koalitionsvertrag umzusetzen. „Dafür müssten im Haushalt jährlich rund sechs Millionen Euro bereitgestellt werden“, sagte der Naturschützer.

„Von allein läuft das nicht“, betonte Bosch. Acht bis zehn Prozent der Feldfläche müsste man der Natur zurückgegeben, schätzt er. Landwirte sollten eine staatliche Entschädigung erhalten. „Man muss einfach zur Kenntnis nehmen, dass Natur auch Raum braucht – nicht nur Bauvorhaben oder Landwirtschaft“, mahnte Bosch. (1523/09.07.2024)