Der Mensch im Mittelpunkt

Er prägte die Aufklärung, war Wegbereiter der modernen Idee der Menschenwürde und des Kosmopolitismus, entwarf eine globale Friedensordnung, formulierte den kategorischen Imperativ und stellte wie niemand vor ihm den Menschen ins Zentrum seines Denkens: Immanuel Kant (1724-1804) zählt zu den bedeutendsten Philosophen der Neuzeit. Am 22. April jährt sich der Geburtstag des epochalen Denkers zum 300. Mal – die Rede beim Festakt in Berlin wird Bundeskanzler Olaf Scholz halten.

„Kant ist heute überall präsent in der Philosophie“, sagt der Kant-Experte Marcus Willaschek: „Das liegt vor allem an der ungebrochenen politischen Relevanz seines Denkens.“ So habe er 1795 mit der Schrift „Zum ewigen Frieden“ das Konzept einer Weltfriedensordnung vorgelegt: „Dieses Projekt hat auch in den heutigen Zeiten nichts von seiner Dringlichkeit verloren.“ Nach dem Ersten Weltkrieg orientierte sich der damalige US-Präsident Woodrow Wilson mit seiner Idee eines Völkerbunds an Kants Friedensschrift, die so auch die Nachfolgeorganisation Vereinte Nationen prägte. Auch Kanzler Scholz macht sich „aus gegebenem Anlass“ in seiner Festrede nächsten Montag Gedanken zum „Ewigen Frieden“.

Der aus einer verarmten Handwerkerfamilie in Königsberg, dem heutigen Kaliningrad, stammende Philosoph war ein Spätstarter. Sein Hauptwerk „Kritik der reinen Vernunft“, an dem er ein ganzes Jahrzehnt des „öffentlichen Schweigens“ arbeitete, erschien 1781. Da war Kant schon 56 Jahre alt. Erst 1770 war er zum Professor für Metaphysik und Logik an der Königsberger Universität berufen worden. In den 60er Jahren des 18. Jahrhunderts sei Kant „der galanteste Mann von der Welt“ gewesen, erinnerte sich sein Schüler Johann Gottfried Herder, mit dem er sich später im bitteren Streit über seine „kritische“ Philosophie überwarf.

„Stets modisch gekleidet, war Kant ein lebenslustiger Mensch, der gerne ausging und beim Billard oder Kartenspiel Geld gewann. Vor allem aber war er ein glänzender Gesellschafter, der seine Gesprächspartner bezauberte und auch eine große Runde geistreich unterhalten konnte“, schreibt der Frankfurter Philosophie-Professor Willaschek in seinem Buch „Kant – Die Revolution des Denkens“. Doch um sein 40. Lebensjahr begann Kant den disziplinierten Tagesablauf, für den er bekannt wurde. Pünktlich um sieben Uhr abends brach er zu einem Spaziergang auf. Es hält sich die Anekdote, dass die Königsberger nach seinem Erscheinen ihre Uhren gestellt hätten.

Damit einher ging eine Neuorientierung seiner Philosophie. Vom französischen Aufklärer Jean-Jacques Rousseau übernahm Kant den Gedanken, dass die Würde eines Menschen weder von seinem gesellschaftlichen Rang noch von seiner Begabung abhängt, sondern allein von der moralischen Qualität seines Wollens und Handelns. Ohne Kant „würde der Begriff der Menschenwürde in unserem Grundgesetz fehlen, das Konzept des mündigen Bürgers, das für uns in der Bundesrepublik maßgebliches Leitbild ist“, unterstreicht Willaschek.

Mit einer seiner bekanntesten Formulierungen beantwortete Kant 1784 die Frage „Was ist Aufklärung?“: der „Ausgang des Menschen aus seiner selbst verschuldeten Unmündigkeit“. Und er fordert: „Sapere aude! Habe Mut, dich deines eigenen Verstandes zu bedienen!“ Ein Jahr später, da ist er schon 60, postulierte er erstmals den berühmten kategorischen Imperativ: „Handle nur nach derjenigen Maxime, durch die du zugleich wollen kannst, dass sie ein allgemeines Gesetz werde.“

Dieser sei „noch heute eine moralische Richtschnur für sehr viele Menschen“, konstatiert Willaschek, der nicht verschweigt, dass Kant selbst seinen hohen ethischen Ansprüchen an das Individuum nicht immer gerecht wurde. „In Kants Werk finden sich zahlreiche Äußerungen, die man aus heutiger Sicht nur als rassistisch bezeichnen kann“, betont er und verweist zudem auf diskriminierende Aussagen über Frauen und Juden sowie Kants moralische Verurteilung von Homosexualität. Doch dürften diese Schattenseiten „auch nicht den Blick auf die großartigen Leistungen Kants verstellen und von dem zutiefst humanen Geist ablenken, der sein Werk bestimmt“.

Zu diesen großartigen Leistungen gehörte die „kopernikanische Wende“ in der Geistesgeschichte, die Kant in der „Kritik der reinen Vernunft“ vollzog: Wie Kopernikus im 16. Jahrhundert die Sonne statt der Erde in den Mittelpunkt rückte, so stellte Kant den aktiven und freien Menschen in den Mittelpunkt seiner Philosophie und der Welt selbst. „Sein verblüffender Gedanke war, dass die Welt nicht einfach da ist, wie wir sie erkennen, sondern dass wir sie im aktiven Erkennen mitstrukturieren: Raum und Zeit sind Formen menschlicher Erkenntnis“, erläutert Willaschek. „Zu Kants Zeit war das absolut revolutionär und erschütterte die Menschen.“

So revolutionär – und sehr schwer verständlich – war sein Hauptwerk, dass es jahrelang missverstanden oder schlicht nicht beachtet wurde. Dem Kosmopoliten Kant, der das Reisen hasste und Königsberg kaum verließ, half sein solides Selbstbewusstsein auch über diese Durststrecke hinweg. Die letzten zwei Jahrzehnte seines Lebens war er dann der unbestrittene intellektuelle Star seiner Zeit, der dank seines Geschäftssinns auch ein stattliches Vermögen anhäufen konnte. 1804 starb Kant im Alter von 79 Jahren – natürlich in Königsberg. Seine letzten Worte: „Es ist gut.“

„Kant hat nichts anderes getan, als Bücher und Artikel zu schreiben“, resümiert Willaschek: „Er war kein Politiker, er hat nichts erfunden, hat keine lebensrettende Medizin entwickelt. Trotzdem prägt seine auf das reine Denken bezogene Existenz unsere Welt bis heute.“