Der gereifte Reformator

Fast zehn Monate hielt Luther sich auf der Wartburg versteckt. Am 1. März 1522 machte er sich auf den Heimweg nach Wittenberg – und schrieb Weltgeschichte mit der Bibel-Übersetzung.

Martin Luther (li.) bei der Arbeit auf der Wartburg mit Philipp Melanchthon, in einer Radierung von 1847
Martin Luther (li.) bei der Arbeit auf der Wartburg mit Philipp Melanchthon, in einer Radierung von 1847akg-images / epd

Eisenach/Wittenberg. Fast 300 Nächte hat Martin Luther auf der Wartburg verbracht, als ihn am 1. März des Jahres 1522 nichts mehr in seinem sicheren Versteck bei Eisenach hält. Wohl in Begleitung eines Knechtes und mit seinen wichtigsten Büchern im Gepäck macht er sich zu Pferde auf die Heimreise nach Wittenberg.

Überall schreitet die Reformation vom Wort zur Tat. „Messen werden gestört, Privatmessen abgeschafft, Abendmahl in beiderlei Gestalt gereicht, erste Priesterehen im Mai 1521 geschlossen, Mönche und Nonnen verlassen die Klöster – um nur ein paar Beispiele zu nennen“, blickt der Jenaer Kirchenhistoriker Christopher Spehr auf die unruhige Zeit zurück. Radikale Prediger, die Zwickauer Propheten, sorgen in Wittenberg für Unruhe. Reformatorische Akteure wie Luthers Kollege Andreas Bodenstein von Karlstadt fordern kirchliche Neuerungen. Luther kann nur mit Briefen darauf antworten. Er muss von der Burg fort.

Zurück in der Öffentlichkeit

Gegen den Wunsch des sächsischen Kurfürsten Friedrich des Weisen, der Luther zu dessen Schutz auf die Wartburg gebracht hatte, drängt es den Reformator zurück in die Öffentlichkeit – zurück zu Predigt und Kanzel, zurück zum Austausch mit seinen Vertrauten, zum theologischen Disput. Vor allem gilt es, das von ihm ins Deutsche übertragene Neue Testament in den Druck zu geben.

Auf der Wartburg übersetzte Luther die Bibel
Auf der Wartburg übersetzte Luther die Bibelepd-bild

Über die Reise selbst ist wenig bekannt. Luther wählt wohl nicht den kürzesten Weg, sondern bleibt lieber auf sicherem kursächsischen Boden. Im Dezember, bei einer heimlichen Visite in Wittenberg, bevorzugte er noch die etwa 220 Kilometer lange direkte Verbindung zwischen der Burg und der Universitätsstadt, erläutert Spehr. Davon hat Georg, Vetter Friedrichs III., Herrscher über Sachsen und erklärter Gegner der Reformation, wohl Wind bekommen. Seit beider Väter das Land in Kursachsen und Sachsen teilten, nehmen die Grenzen zwischen beiden Staaten oft einen abrupten Verlauf. Der vogelfreie Luther, seit dem Wormser Reichstag in seinem Leben bedroht, reitet lieber auf Nummer sicher.

Zur lokalen Legende gerät sein Aufenthalt im Gasthaus „Zum Bären“ in Jena am 3. und 4. März. „Er trug Wamms und lange Hosen und auf dem Kopfe eine rothe Lederkappe, ganz nach Landesgewohnheit der Reitersleute“, fabulierte Friedrich Helbig 1883 im Leipziger Familienblatt „Die Gartenlaube“ über das Treffen mit zwei Schweizer Studenten. Belegt sind zudem Luthers Aufenthalt am 5. März in Borna und seine Ankunft 24 Stunden später an einem Donnerstag in Wittenberg.

Wieder auf der Kanzel

Viel Zeit lässt der Reformator dort nicht verstreichen. Aus dem Reitersmann mit Bart und Schwert wird wieder der Mönch in Kutte mit Tonsur. Bereits am Sonntag, dem 9. März, steht er auf der Kanzel und führt die Wittenberger mit seinen Invokavitpredigten auf einen gemäßigten reformatorischen Weg zurück. Die erste Hürde ist genommen. Nun geht es um seine Bibelübersetzung.

Luther-Denkmal in Eisenach (Thüringen)
Luther-Denkmal in Eisenach (Thüringen)epd-bild / Jens-Ulrich Koch

Erst am 18. Dezember hatte er damit begonnen, das Neue Testament vor allem aus dem Griechischen ins Deutsche zu übertragen. Für den Reformator handelt es sich um nicht weniger als eines seiner Kernanliegen: „Wenn doch jede Stadt ihren eigenen Dolmetscher hätte und dies Buch allein in aller Zunge, Hand, Augen, Ohren und Herzen wäre!“, zitiert ihn der Leiter des Eisenacher Bachhauses, Jochen Birkenmeier. Nach nur elf Wochen war Luther mit der Arbeit auf der Wartburg fertig.

In Wittenberg geht er mit befreundeten Theologen, zuvorderst Philipp Melanchthon, das Manuskript akribisch durch. Es dauert bis zum Herbst, bis der Druck beginnen kann. Dem „Septembertestament“ folgt schon im Dezember eine zweite korrigierte Fassung. Bis zur vollständigen „Lutherbibel“ dauert es indes noch bis 1534, wobei an der Übersetzung des Alten Testamentes ein ganzes Autorenkollektiv beteiligt ist.

Wartburg als Zäsur

Die Wirkung der Bibelübersetzung ist kaum zu überschätzten. „Sie schuf nicht nur einen neuen Zugang zur Heiligen Schrift und die Grundlage einer gemeinsamen deutschen Schriftsprache, sondern inspirierte auch volkssprachliche Bibelübersetzungen in vielen anderen Ländern Europas“, sagt Bachhaus-Leiter Birkenmeier.

Auf Luther selbst hatte der Aufenthalt auf der Wartburg einen enormen Einfluss. Unmittelbar davor hatte die Kirche ihn exkommuniziert und der Kaiser ihn für vogelfrei erklärt, weil er seine Lehren nicht widerrief. Ging es Luther zunächst um die Reform kirchlicher Zustände sowie um die Verbreitung der evangelischen Lehre, war ihm das als verurteilter Ketzer innerhalb der Papstkirche fortan unmöglich. Ab 1522 bewegte ihn die konkrete Frage, wie sich die evangelische Lehre in der kirchlichen Praxis umsetzen lässt.

Nicht mit Gewalt, sondern behutsam, geordnet, erläutert Kirchenhistoriker Spehr. Die Monate auf der Burg waren dabei eine Zäsur: „Der junge, eruptive Luther avancierte zur Autorität und zum Gestalter der Reformation, der überstürztes Handeln ablehnte.“ (epd)