Der freundliche Herr Amichai

Als der junge Ludwig Pfeuffer 1935 Würzburg verließ, hatte er schon allerhand erlebt für einen Zwölfjährigen: gehässige Rufe, antisemitische Schmähungen und Übergriffe. Aber: „Mit allem Gefühl des Fremd- und Andersseins fühlte ich mich sehr wohl in der schönen Stadt Würzburg“, schrieb er 1978 in einem Sammelband. Da hieß er schon seit 32 Jahren Jehuda Amichai, lebte in Jerusalem und war einer der meistgelesenen israelischen Autoren. Am 3. Mai wäre der gebürtige Würzburger 100 Jahre alt geworden.

Amichai kommt aus einer strenggläubigen jüdischen Familie, die nach der NS-Machtübernahme aus Bayern nach Palästina floh und sich in dort in Amichai („mein Volk lebt“) umbenannte. Seine Lyrik und Prosa gilt bis heute als geradezu revolutionär, weil er die Alltagssprache der Menschen in Israel, das moderne Hebräisch, in die Literatur eingeführt hat. In den 1950er-Jahren avancierte er zum literarischen Shooting-Star, bald galt er als Nationaldichter des jungen Staates Israels. Mehrfach wurde er als Literaturnobelpreisträger gehandelt.

Amichai war in Israel und den USA lange bekannt, ehe 1988 erstmals ein Gedichtband auf Deutsch bei Piper erschien. Im April 1981 reiste der damals junge Historiker Roland Flade aus Würzburg nach Jerusalem, um mit ihm ein Zeitzeugengespräch für seine Doktorarbeit über jüdische Würzburger zu führen: „Wenn man sich ein erstes Zeitzeugengespräch für die eigene Forschung wünschen darf, dann genau so.“ Er habe ihm gegenüber, dem jungen Deutschen, „eine so große Wärme und Freundlichkeit ausgestrahlt – das war beeindruckend“.

Für Flade entwickelte sich diese Wärme und Zugewandtheit zu einem „Leitmotiv“ seiner Forschung über die Geschichte der Würzburger Juden bis zum Beginn der NS-Zeit im Jahr 1933. „Es war eine Art Dankbarkeit zu spüren, dass sich jetzt mal jemand des Themas aus nicht-jüdischer Perspektive widmet“, erzählt Flade. Denn die Geschichte der Ausgrenzung, der Geringschätzung und der Vertreibung jüdischer Menschen beginnt auch in Würzburg nicht erst mit den Nationalsozialisten – sie hat eine traurige, jahrhundertelange Tradition.

Vielleicht, sagt Historiker Flade, ist das eines der wichtigsten Wesensmerkmale Amichais gewesen: die Kunst der Differenzierung. „Er konnte das Verbrecherische vom Schönen trennen. Für ihn gab es in Würzburg beides. Das eine hat das andere nicht komplett überlagert.“ Doch Amichai blendet in seinem Œuvre nichts aus, redet nichts schön. „Schwarz Uniformierte brachen die Tür auf. Stiefel trampelten“, heißt es in der Kurzgeschichte „Wie oft mein Vater starb“, die 1990 erschien, über den NS-Terror: „Es war das Ende meiner Kindheit.“

Und dann gibt es Szenen wie diese aus dem – zwar nicht explizit, aber sicher autobiografisch geprägten – Roman „Nicht von jetzt, nicht von hier“, als Amichai beschreibt, wie seine beste Freundin Ruth, die wegen eines Unfalls ein Bein verloren hatte, im jüdischen Krankenhaus von einer katholischen Ritaschwester gepflegt wird: „Die Augen der alten Elisabeth blickten mich liebevoll an.“ Elisabeth Wenzel ist Würzburgerin, „sie symbolisiert für Amichai das gute Würzburg, das nicht nationalsozialistisch und antisemitisch war“, sagt Flade.

Eine Einschätzung, die auch Josef Schuster, Präsident des Zentralrats der Juden in Deutschland und selbst Würzburger, teilt. Schusters Vater David war unter anderem Vorsitzender der Jüdischen Gemeinde Würzburgs, als die Stadt Amichai 1981 ihren Kulturpreis verliehen hatte – wohlgemerkt, ohne dass bis dahin eines seiner Werke überhaupt in deutscher Sprache erschienen war. „Ich erinnere mich, er war bei uns zu Hause zu Besuch – so wie viele andere. Ein Großteil des Gemeindelebens spielte sich dort ab“, erinnert sich Schuster.

Josef Schuster aber weiß, dass sich die beiden Männer, die vor den Nazis aus Unterfranken geflohen waren, nicht nur gut verstanden, sondern regelrecht „seelenverwandt“ waren: „Beide sind immer offen auf andere Menschen zugegangen, gerade auch auf Deutsche, um ihnen die Hand zur Versöhnung zu reichen.“ Dass das Werk Amichais so viele schöne Schilderungen aus Würzburg enthält, wundert Schuster nicht nur deswegen nicht: „Schöne Kindheitserinnerungen bleiben für immer. Die lässt man sich nicht kaputt machen!“

Dass Yehuda Amichai im deutschen Literaturbetrieb trotzdem größtenteils unbekannt ist, hat verschiedene Gründe, glaubt Flade. Zum einen kamen die deutschen Übersetzungen seiner Werke vergleichsweise spät auf den Markt. Zum anderen schreibe er eben auch viel „über die jüdische Community“, zu der viele Nicht-Juden bis heute wenig Zugang hätten, mangels eigener Berührungspunkte. Die geplanten Veranstaltungen zum 100. Geburtstag Amichais von „Würzburg liest ein Buch“ könnten da sicher Abhilfe schaffen, meint Flade.

Fast noch wichtiger, da ist sich Schuster sicher, wird der Jehuda-Amichai-Literaturpreis der Stadt Würzburg sein, der ab diesem Jahr und im Idealfall alle zwei bis drei Jahre vergeben werden soll. Das Preisgeld soll bei mindestens 10.000 Euro liegen, der Preis richtet sich an jüdische und nichtjüdische Autorinnen und Autoren aus dem gesamten deutschsprachigen Raum, die jüdische Kultur und jüdisches Leben thematisieren und vermitteln. (00/1234/18.04.2024)