Der Erfinder der Liebesmystik

„Der Grund, weshalb wir Gott lieben sollen, ist ganz einfach Gott, und das Maß ist die Maßlosigkeit“ – so sprach Bernhard von Clairvaux, Mystiker, Politiker und Kreuzzugsprediger

„Es ist Zeit, dass ich zu mir selbst komme“, schreibt ein ratloser Mönch. „Mein ungeheuerliches Leben und mein heimgesuchtes Gewissen schreien zu euch. Denn ich bin gleichsam die Chimäre meines Jahrhunderts. Ich lebe weder das Leben eines Mönchs noch das eines Laien. Von der klösterlichen Lebensweise habe ich mich schon längst getrennt, nicht aber vom Gewand. Ich will euch nicht dasjenige schreiben, was ihr, wie ich meine, von anderen über mich erfahren könnt, was ich tue, um was ich mich bemühe und über welche Scheidelinien hinaus ich mich in der Welt befinde, oder besser, in welche Abgründe ich mich stürze.“
Ungewöhnliche, ja modern anmutende Worte eines frommen Gottesmanns. Bernhard hat sie in schon vorgerücktem Alter an einen Freund, den Kartäuserprior Bernhard von Portes, geschrieben. Er sei „wütend über all die Dinge, die mich beanspruchen“, schrieb Bernhard in einem anderen Brief.

Identitätssuche mit modernen Worten

„Ora et labora“, „Bete und arbeite“, verlangte Benedikt von Nursia einst für die christliche Existenz, die mönchische zumal. Aber das mit dem Gleichgewicht von Gebet und Arbeit war offenbar zu allen Zeiten auch für Gottesleute so eine Sache. Vor allem, wenn sie so begabt und erfolgreich sind wie Bernhard.
Als „ungekrönten Papst und Kaiser seines Jahrhunderts“ und als „Erzvater des europäischen Gefühls“ hat man ihn später bezeichnet. Ein „religiöses Genie“ war er für den protestantischen Kirchengeschichtler Adolf von Harnack. Er selbst hat sich als „geteilt zwischen Mönchtum und Rittertum, Mystik und Politik“ empfunden.
Bernhard ging es gesundheitlich immer gut, wenn er unterwegs und außerhalb des Klosters war; krank wurde er, wenn er länger in Klausur blieb. Trotzdem setzte fast sofort nach seinem Tod eine bewusste Legendenbildung ein, die Bernhards „Mystiker-Heiligkeit“, seine Weltferne betonte und den Macher und Politiker Bernhard kleinredete.
Das Hin- und Hergerissensein zwischen Kontemplation und Aktion war allerdings nicht nur das Problem der Jahrhundertgestalt Bernhard. Jedem Leben ist diese Spannung grundsätzlich eigen. Und wie Bernhard muss jeder von uns lernen, mit ihr auf eine lebensdienliche Weise zu leben.
Für den Theologen ist außerdem klar: Was die einzelne Seele an Zerrissenheit und Sünde erlebt, das ereignet sich im großen Maßstab in der Zerrissenheit, der Spaltung und dem Elend der Kirche. Beides ist miteinander verbunden und zugleich Spiegel der zerrissenen, in Gottferne lebenden Menschheit.
Denn christliche Mystik ist im Kern selbst ein spannungsgeladenes Phänomen: Sie scheint Ruhe und Einfachheit zu suchen, ist aber selbst vielschichtig und komplex, setzt ein ruhelos Gott suchendes Herz geradezu voraus. Christliche Existenz, das hat Bernhard so erfahren, kommt auf Erden nie lange zur Ruhe. Sie kann sich nie endgültig in einer festen Form oder Aufgabe einrichten, weil sie sich ständig infrage gestellt fühlt. Denn ihre Ruhe und Einfachheit sind keine objektiven inneren oder äußeren Zustände „an sich“, sondern die subjektive und immer wieder neu zu suchende Folge der Gottesbeziehung. Um Gott zu finden, muss der Mensch gewissermaßen immer wieder „ekstatisch“ aus und über sich selbst hinausfinden.
Erfahrungen des Friedens und der Ruhe in der Beziehung zu Gott seien „breve momentum et experimentum rarum“ – kurz und selten, schreibt Bernhard. Ein grundlegendes Missverständnis und immer aktuelles Problem in der Geschichte der Mystik und vor allem der kontemplativen Orden, sagt der Bernhard-Experte Bernhardin Schellenberger, sei, dass Menschen danach streben, diese Erfahrung als Dauerform einrichten zu wollen.
Für Bernhard kann nichts, kein Brauch, keine Ordensregel, Lebensweise oder Meditationstechnik, die lebendige Beziehung zu Gott ersetzen. Im Gegenteil: Sie können sie sogar ersticken.
Bernhards Bedeutung war schon seinen Zeitgenossen bewusst. Ihnen verdanken wir die Überlieferung einer Fülle an Bernhard-Schriften, die seither so unterschiedliche Geister wie den Franziskaner Bonaventura, den (ehemaligen) Augustinermönch Martin Luther oder den Mathematiker Blaise Pascal inspiriert haben und bis heute weiterwirken. Paul Gerhardt meinte einst, sein berühmtes Passionslied „O Haupt voll Blut und Wunden“ unmittelbar auf Bernhard-Texte zurückführen zu können. Und der evangelische Theologe Paul Tillich verteidigte den Mystiker gegen moderne theologische Angriffe: „Wenn die Barthianer sagen, dass (…) man entweder ein Christ oder Mystiker sei und dass der fast zweitausend Jahre alte Versuch, die Mystik zu taufen, verfehlt sei, kann man auf Bernhard hinweisen, den vielleicht größten Vertreter der Liebesmystik; und nur wo es Liebesmystik gibt, gibt es christliche Mystik.“

Ekstase gibt es nicht als Dauerform

Vor allem zwei Werke belegen die andauernde Wirkung seines Denkens: De gradibus humilitatis et superbiae (Von Niedrigkeit und Hochmut) und De diligendo Deo (Von der Liebe zu Gott), das 1127 erschien und noch heute lesenswert ist.
Und der flammende Kreuzzugprediger Bernhard? In vielem ähnelten seine Überzeugungen denen heutiger Dschihadisten: Ein Ritter Christi tötet mit gutem Gewissen; noch ruhiger stirbt er. Wenn er stirbt, nützt er sich selber; wenn er tötet, nützt er Christus. Auch Bernhard von Clairvaux war eben ein Kind seiner Zeit.