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Der besondere Gast – Neues Zuhause für Menschen in seelischer Not

Janine kann nicht alleine wohnen: Eine psychische Erkrankung ist der Grund. Aber dank eines Projektes findet sie bei einer Gastfamilie ein Heim. Sabine und ihr Mann nehmen sie auf – und sind dabei auch glücklich.

Als Sabines* Sohn auszog und dann noch ihre Eltern starben, die seit vielen Jahren mit im Haus lebten, wäre der 64-Jährigen fast die Decke auf den Kopf gefallen. Die Stille in der zweiten Etage, das Nichtstun hielt die gelernte Altenpflegerin nicht lange aus. So meldete sie sich in Wiesloch bei der SPHV Service gGmbH. Die gemeinnützige Organisation vermittelt Menschen, die aufgrund ihrer psychischen Erkrankung oder seelischen Behinderung nicht allein leben können, in Familien. Gäste werden sie genannt.

Janine* ist ein solcher Gast. Sie ist Anfang 50 und hat seit ihrer Jugend psychische Erkrankungen. Ihre Mutter lebt nicht mehr, in ein Pflegeheim oder eine andere Einrichtung möchte sie nicht, der Bruder hat selbst Familie, und sich um die Schwester zu kümmern, traut er sich nicht zu.

Aber Sabine traut sich das zu. “Ich kann ja nicht alle Zimmer in meinem Haus bewohnen”, sagt sie und lacht. Als Sabines Eltern krank wurden, hat sie sie gepflegt. Nach dem Tod der beiden gab es aber plötzlich niemanden mehr, für den sie da sein konnte, der sie brauchte. “Das geht nicht, ich kann ja nicht von morgens bis abends mit dem Hund spazieren gehen.” Jetzt geht sie mit Janine spazieren – und dem Hund. Was ihr Mann zur Mitbewohnerin sagt? “Der weiß, dass ich durchdrehe, wenn ich keine Aufgabe habe”, sagt Sabine.

Hier ist die gesellschaftliche Teilhabe für Menschen mit Behinderung sogar eine Win-Win-Situation, beide Seiten profitieren. Denn auch für Janine ist die Gastfamilien-Situation genau das Richtige: Es ist immer jemand da, den sie ansprechen kann, der sie vermissen würde, wenn sie abends nicht pünktlich nach Hause käme. Janine arbeitet in einem inklusiven Betrieb, dort hilft sie bei der Buchführung. Den Weg dorthin mit der Bahn bewältigt sie allein. Doch wenn etwas ist, kann sie Sabine anrufen.

Überhaupt kann sie ihre Gastfamilie immer um Rat fragen. Oft kochen sie gemeinsam, manchmal aber eben auch nicht. Dann kann sich Janine in ihr Zimmer zurückziehen, wo sie von niemandem gestört wird.

Was in dem kleinen Haus bei Janine, Sabine und ihrem Mann passiert, ist gelebte Gemeindepsychiatrie. Ziel des “Begleiteten Wohnen in Familien” (BWF) – so der offizielle Name für die Wohnform – ist, psychisch eingeschränkten Menschen das Leben außerhalb von stationären Einrichtungen zu ermöglichen. Durch die Unterstützung der Gastfamilie im Alltag kann ein hohes Maß an Normalität und sozialer Teilhabe geboten werden. Ferner soll der Mensch seine Kompetenzen erhalten und erweitern.

Gast und Gastgeber werden durch ein Fachteam des betreuten Wohnens in ihrem gemeinsamen Alltag unterstützt und beraten; regelmäßig finden auch Hausbesuche statt. Die Gastgeber erhalten ein monatliches Entgelt für Versorgung und Betreuung sowie Miete. “Das darf aber nicht der ausschlaggebende Grund sein, einen Menschen bei sich aufzunehmen”, betont Steffen Hornung von der SPHV. Er betreut Janine und nun auch Sabine, wenn diese in ihrer Rolle als Gastgeberin Fragen hat. Sowohl die Motivation als auch das Wohnumfeld werden geprüft, ehe eine psychisch erkrankte Person zunächst probeweise, dann dauerhaft bei einer Familie einziehen kann.

Nicht nur Familien können Gastgeber werden, sondern auch Lebensgemeinschaften und Einzelpersonen. Einzige Voraussetzung: genügend Platz für den Gast sowie die Bereitschaft, sich auf die besonderen Bedürfnisse und den damit einhergehenden Unterstützungsbedarf des psychisch erkrankten Menschen einzulassen. Fachliche oder pädagogische Kenntnisse sind nicht erforderlich.

Neben der Begleitung durch den Fachdienst stehen vielen Gästen rechtliche Betreuer zur Seite. “Aus Sicht des BWF geht es darum, ein weitgehend normales Leben in einem familiären Rahmen zu bieten”, sagt Hornung. Dazu gehören eine Tagesstruktur und eine Einbeziehung in Aktivitäten am Wochenende. Dazu kann die Verpflegung gehören – es gibt jedoch auch Gäste, die sich selbst versorgen.

Der Gast wiederum soll die Gepflogenheiten der Familie respektieren, schließlich sollen auch soziale Fähigkeiten (wieder) erlernt oder erhalten werden. Nicht wenige der Gäste fühlten sich vor der Aufnahme in die Familie einsam und isoliert. “Das Wohnen mit der Familie soll Perspektive und Halt geben und ein möglichst selbstbestimmtes Leben ermöglichen”, betont Hornung.

Funktioniert das Zusammenleben ab einem Punkt nicht mehr, kann gekündigt werden – von beiden Seiten.