Den Menschen sehen

Die Herausforderungen der Zeit bringen viele Frauen und Männer in Führungspositionen an ihre Grenzen – körperlich und seelisch. Da muss man auch mal Gnade walten lassen, so das Fazit des Leitartikels.

Das Verhältnis von Führung und Verantwortung, Macht und Ohnmacht ist dahingehend aus dem Gleichgewicht, dass es anscheinend nur ein "entweder - oder" gibt.
Das Verhältnis von Führung und Verantwortung, Macht und Ohnmacht ist dahingehend aus dem Gleichgewicht, dass es anscheinend nur ein "entweder - oder" gibt.TSEW

Erschöpft. Ausgebrannt. Am Ende. Manchmal können Menschen einfach nicht mehr. Was aber tun, wenn man oder frau Verantwortung übernommen hat – für Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, für eine Gemeinde oder gar für ein ganzes Land? Zurücktreten? Das kommt für die meisten nicht in Frage. Weil sie um ihr Ansehen fürchten – und ihre Macht.

Möglicherweise hängen diese Menschen auch einer alten Vorstellung von Führung an, einer, die besagt: Du darfst niemals Schwäche zeigen. Bedauerlich, dass auch manche Frauen diesem überkommenen männlich geprägten Bild nacheifern. Vor ein paar Jahren hieß es, bei Nachtsitzungen von Politikerinnen und Politikern gebe es Wettbewerbe, wer am längsten durchhält. Angela Merkel war offenbar immer unter den Besten. Wie dumm. Jeder weiß doch, dass man bei Schlafmangel nicht die klügsten Entscheidungen trifft.

Ruhm und Macht im Tausch für Gesundheit und ein Familienleben

Die neuseeländische Premierministerin Jacinda Ardern hat gezeigt, dass es anders geht. Nicht nur mit ihrem, wie es heißt, modernen weiblichen Führungsstil während ihrer Amtszeit, sondern auch mit ihrem Rücktritt vor etwa drei Wochen. Der war vielleicht sogar so etwas wie die Fortsetzung ihrer etwas anderen Amtsführung. Sie hat Mut bewiesen, als sie eingestand, „nicht mehr genug im Tank“ zu haben. Ruhm und Macht tauscht sie nun ein gegen Gesundheit und ein Familienleben.

Ist das Scheitern? Oder ist es nicht vielmehr Ausdruck von Größe? Häme für ihre Entscheidung gab es jedenfalls nur bei den politischen Gegnerinnen und Gegnern in ihrem eigenen Land. Weltweit wurde ihr Respekt gezollt. Zu Recht.

Denn es stimmt ja: Es gibt in unserer realen Welt keine Superhelden und -heldinnen. Immer wieder stoßen Männer und Frauen – egal, ob sie in Führungspositionen sind oder nicht – körperlich oder seelisch an ihre Grenzen. Was haben wir für ein Menschenbild, wenn wir das nicht zulassen, wenn wir nur Höchstleistungen erwarten? Ein christliches jedenfalls nicht.

Manche Menschen sind belastbarer als andere

Wir müssen anerkennen, dass es Menschen mit unterschiedlichen Begabungen gibt, mit unterschiedlichen Stärken und Schwächen, dass manche belastbarer sind als andere. Und dann müssen wir manchmal auch Gnade walten lassen. Jeder gegenüber sich selbst, aber auch gegenüber seinen und ihren Nächsten. Das heißt selbstverständlich auch, gegenüber all denen, die politische Verantwortung tragen.

Gnade bedeutet ja nicht, kritiklos zu allem Ja und Amen zu sagen (unsere Demokratie bietet zum Glück viele Möglichkeiten der Beteiligung und Meinungsäußerung), aber es bedeutet, hinter dem Politiker, der Politikerin, hinter der Führungsperson immer auch den Menschen zu sehen, der ja (wenigstens in den meisten Fällen) bemüht ist, sein Bestes zu geben. Nicht nur, aber auch in diesen in vielerlei Hinsicht so herausfordernden Zeiten.