Das längste Orgel-Konzert der Welt

„So langsam wie möglich“ soll gespielt werden: Sieben Jahre lang ertönte beim Cage-Orgelprojekt lediglich ein Fünfklang. Nun geht’s weiter, mit zwei neuen Tönen. 639 Jahre soll das Konzert dauern.

Auch zum Klangwechsel im Juli 2012 kamen viele Besucher
Auch zum Klangwechsel im Juli 2012 kamen viele BesucherFrank Drechsler

Halberstadt. „Der aktuelle Sound changiert zwischen Maschinenraum und Hamburger Hafen“ – so beschreibt der Kuratoriumsvorsitzende der John-Cage-Orgel-Stiftung, Rainer O. Neugebauer, das Hörerlebnis, das Besucher in der Burchardi-Kirche in Halberstadt in Sachsen-Anhalt aktuell erwartet. „Im Moment ist das ein sehr gut auszuhaltender, harmonischer Klang.“ Am 5. September gibt es nun nach sieben Jahren wieder einen Klangwechsel. Ab diesem Tag, dem 108. Geburtstag des US-amerikanischen Komponisten und Avantgardekünstlers John Cage (1912-1992) werde es noch „voller klingen“, verspricht Neugebauer. Es ist der 14. Klangwechsel in diesem außergewöhnlichen Orgel-Kunst-Projekt, das im Jahr 2001 begann und erst im Jahr 2640 enden soll.

Es handelt sich um ein ambitioniertes wie ungewöhnliches Langzeitprojekt: 639 Jahre beträgt die Spieldauer der gesamten Aufführung „ORGAN2/ASLSP“ (As SLow aS Possible), auf deutsch: So langsam wie möglich. Dahinter stecke auch ein zen-buddhistischer Gedanke, die Dinge erst einmal so zu nehmen wie sie seien, sagt Neugebauer. Er habe selbst auch „ganz neu hören gelernt“ durch dieses Konzert. Für manche ist es eine Ewigkeitserfahrung.

Elektromotor für den Blasebalg

Seit 5. Oktober 2013 erklingen fünf Orgelpfeifen, c‘(16‘), des‘(16‘), dis‘, ais‘ und e‘‘; dabei treibt ein Elektromotor den Blasebalg der Orgel an. Nun kommen zwei neue Pfeifen, gis und e‘, hinzu. Damit endet der längste ununterbrochene Klang des ersten, auf 71 Jahre angelegten Teils des Orgelstücks. Die Leitung für den bevorstehenden Klangwechsel hat Neugebauer, der Cage selbst einmal bei einem Auftritt Ende der 1970er Jahre in Bonn erlebt hat.

In der Burchardi-Kirche von Halberstadt spielt die Orgel ununterbrochen seit 2001
In der Burchardi-Kirche von Halberstadt spielt die Orgel ununterbrochen seit 2001Frank Drechsler / epd

Das Publikumsinteresse ist über die Jahre stark gewachsen, auch international wurde das Projekt viel beachtet. Waren es zu Beginn lediglich zehn Cage-Fans, die den Klangwechsel verfolgten, drängten zuletzt vor sieben Jahren rund 1.500 Menschen in die Burchardi-Kirche, um bei dem Ereignis dabei zu sein. Spätestens da war klar, dass die Besucherströme aufgrund von Sicherheitsbedenken stärker begrenzt werden müssten.

Zusätzliche Einschränkungen gibt es nun in diesem Jahr noch durch die Corona-Pandemie. Rund um die Orgel selbst können nur 200 Menschen mit Eintrittskarten der „eigensinnigen Zeit- und Klangerfahrung“ beiwohnen. Es gelten Abstands- und Hygieneregeln und Mund-Nasenschutz-Pflicht. Aber die John-Cage-Orgel-Stiftung organisiert für weitere Interessenten vor der Burchardi-Kirche zusätzlich eine Videoübertragung. Diese kann auf dem Gelände von etwa 1.000 Menschen verfolgt werden. Immerhin besteht nach dem Klangwechsel noch die Möglichkeit, in Gruppen durch die Kirche zu gehen.

Finanzielle Sorgen

Der finanziellen Absicherung der Zukunft des Projektes sieht die Stiftung indes mit Sorge entgegen. In den vergangenen 20 Jahren wurden fast eine Million Euro über Spenden und Eigenmittel für das ehrenamtliche Projekt eingeworben und aufgebracht. Das Spendenaufkommen ist aber rückläufig.

Ein Großteil der Spenden wurde mit dem Verkauf von „Klangjahren“ eingeworben. Nun seien aber fast alle „Klangjahre“ verkauft, sagt Neugebauer. „Wir müssen uns jetzt ernsthaft Gedanken machen, wie es weitergeht.“ Wegen der Corona-Pandemie sind zudem die Besucherzahlen deutlich zurückgegangen, insbesondere Gruppen haben ihre Reisen nach Halberstadt storniert. Normalerweise zählt die Stiftung rund 10.000 Besucher pro Jahr. Daran hängen natürlich auch weitere Spenden oder der Verkauf von Materialien wie Broschüren.

Von der Finanzierung abgesehen blickt Neugebauer hinsichtlich der nächsten 620 Jahre Konzertdauer sowieso in eine ungewisse Zukunft: „Wir wissen nicht, ob das Projekt wirklich so lange läuft wie geplant. Vielleicht sagt die Gesellschaft dann auch, was soll dieser Quatsch?! Oder sie sagen: Das soll so langsam wie möglich sein? Das können wir noch langsamer.“ Neugebauer meint: „Es ist ein Projekt der Hoffnung. Wenn das Projekt bis zum Ende am 4. September im Jahr 2640 durchhält, dann hat diese kleine Kirche in Halberstadt noch nie so lange Frieden erlebt.“

Nächster Klangwechsel schon in zwei Jahren

Bis dahin wird der Blasebalg der Cage-Orgel Tag und Nacht langsam weiterpusten und damit den Ton halten. Oder mehrere Töne, zumindest bis zum nächsten Ziel, dem nächsten Klangwechsel. Auf diesen müssen Cage-Fans dann nicht mehr sieben Jahre warten wie dieses Mal: Der 15. Klangwechsel soll bereits am 5. Februar 2022 über die Bühne gehen. (epd)