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Das Grundgesetz – 75 Jahre alt und schwer verständlich

75 Jahre nach der Verabschiedung des Grundgesetzes liegt nun eine sprachliche Analyse des Textes vor. Besonders gut schneidet die deutsche Verfassung dabei nicht ab. In einigen Bereichen kann sie jedoch punkten.

Wahlprogramme, Corona-Pressemitteilungen, Doktorarbeiten in der Politikwissenschaft: All diese Texte gehören mitunter nicht zu den verständlichsten Veröffentlichungen. Zusätzlich haben sie jedoch eine weitere Gemeinsamkeit: Sie alle sind verständlicher geschrieben als das Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland.

Das ergab eine Analyse des Kommunikationswissenschaftlers Frank Brettschneider im Auftrag der Katholischen Nachrichten-Agentur (KNA). Die deutsche Verfassung erhält auf dem von ihm mit entwickelten Hohenheimer Verständlichkeitsindex (HIX) einen Wert von 3,8 auf einer Skala von 0 (schwer verständlich) bis 20 (leicht verständlich). Vier Artikel erhalten das eindeutige Urteil 0,0. Unter ihnen ist Artikel 35, der auch den Einsatz der Bundeswehr innerhalb Deutschlands bei Naturkatastrophen regelt.

Besser steht es da um Artikel 2: “Jeder hat das Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit” ist einer der Sätze des Artikels. Unter allen 146 Artikeln und 56 Unterartikeln schneidet er mit einem Wert von 16,9 am besten ab. In den ersten 19 Artikeln des Grundgesetzes werden die elementaren Grundrechte zusammengefasst. Insgesamt schneiden sie mit einem Wert von 4,7 kaum besser ab als das Grundgesetz als Ganzes.

Das formal verständlichste Kapitel ist Kapitel IV über den Bundesrat (11,8). Zu den unverständlichsten zählt die Präambel, also die Einleitung. Das liege unter anderem an der Aufzählung aller Bundesländer.

Nicht nur die Aufzählung der Bundesländer macht das Grundgesetz im internationalen Vergleich zu einer langen Verfassung. Zählt man den noch heute gültigen Auszug aus der Weimarer Reichsverfassung mit, umfasst das Grundgesetz fast 24.000 Wörter. In seiner ursprünglich 1949 verabschiedeten Form war das Grundgesetz mit rund 12.500 Wörtern etwa halb so lang wie heute. Im Vergleich dazu kommt die US-amerikanische Verfassung auf nur rund 7.600 Wörter. Die längste Verfassung der Welt ist die indische mit rund 400 Artikeln und etwa 145.000 Wörtern.

“Human dignity shall be inviolable” heißt es nur in der englischen Version des Grundgesetzes, die der Bundestag vertreibt. Ansonsten gilt nämlich: Kein einziger Anglizismus findet sich in dem Dokument aus dem Jahr 1949 wieder. Das stellt Kommunikationswissenschaftler Brettschneider als positiv für die Verständlichkeit des Textes heraus.

Anders sieht es bei der Länge der Sätze aus: Fast vier von zehn Sätzen des Grundgesetzes enthalten laut Untersuchung mehr als 20 Wörter und gelten damit als zu lang. Diese Grenze sollten für eine gute Verständlichkeit maximal drei Prozent der Sätze in einem Text überschreiten. Die durchschnittliche Satzlänge im Grundgesetz betrage 19,5 Wörter; der längste Satz bestehe sogar aus 88 Wörtern.

Nicht nur die Länge der Sätze sieht Brettschneider problematisch: Über die Hälfte enthalte zu viele Substantive. “Sie lassen den Text schwerfällig erscheinen. Sie sind typisch für Amtsdeutsch und Rechtstexte”, so der Kommunikationswissenschaftler.

Lange Wörter kämen hingegen kaum vor, mit drei Prozent werde hier ein guter Wert erreicht. Als Beispiele für Wörter mit mehr als 16 Buchstaben nennt er das “Gemeindeverkehrsfinanzierungsgesetz” (Art 125c) oder das “Bergarbeiterwohnungsbaurecht” (Art 74).

Brettschneider weist darauf hin, dass mit dem HIX lediglich die Text-Merkmale untersucht würden. Ob ein Text tatsächlich verstanden werde, hänge von weiteren Faktoren ab wie Bildung, Alter, Vorwissen der Leserinnen und Leser sowie deren Interesse am Thema. Auch sage die formale Verständlichkeit nicht allein etwas über die Qualität eines Textes aus. Der Inhalt sei dafür noch wichtiger. Menschen würden jedoch formal verständliche Texte besser verstehen und wiedergeben.