Das Dorf der Versöhnung

Es weht ein leichter Wind vom Mittelmeer her in der christlichen Siedlung Nes Ammim im Norden Israels. Anja Mendouga streicht sich mit einer kurzen Handbewegung eine Haarsträhne aus dem Gesicht. „Hier ist viel mehr Sonnenschein als in Deutschland, das macht echt gute Laune“, sagt sie und lacht. Hinter ihr wiegen sich die Palmen. Die 35-jährige Stuttgarterin ist seit vergangenem Sommer im Management-Team von Nes Ammim im Einsatz. Das Dorf ist seit Jahrzehnten eine beliebte Anlaufstelle für Freiwillige aus Europa und den USA, die eine Zeit lang im „Heiligen Land“ leben, lernen und arbeiten wollen. In diesem Jahr feiert es sein 60-jähriges Bestehen, unter anderem mit einer Festtagung am 23./24. September in Schwerte. Im Frühjahr 1963 wurde es gegründet.

Ein christliches Dorf in Israel: Diese Idee hatte in den 1950er-Jahren der niederländische Arzt Johan Pilon. Der engagierte Protestant war entsetzt über den deutschen Massenmord an sechs Millionen Juden, den Holocaust. Der europäische Antisemitismus, so diagnostizierte er, habe eine seiner Wurzeln im Christentum. Pilon wollte zeigen, dass es auch anders geht: Christen sollten in Israel das Judentum kennenlernen und so für die vielfältigen Formen des Antisemitismus sensibel werden.

Der Mediziner fand Unterstützer in den Niederlanden, Deutschland und der Schweiz. Mithilfe von Spenden wurde nördlich von Haifa für eine Million Schweizer Franken rund ein Quadratkilometer Land erworben – die Keimzelle von Nes Ammim, zu Deutsch „Zeichen für die Völker“. 1963 kamen die ersten Siedler, ein Ehepaar aus der Schweiz. Sie wohnten in einem ausrangierten Linienbus, der noch heute mitten Dorf steht. Als Museum erzählt er von den sechs Jahrzehnten, in denen
das Dorf zum ökumenischen Begegnungszentrum wuchs: mit einem Touristenhotel und zahlreichen Häusern für Freiwillige.

Und mit einem Garten, der mit blühenden Bougainvilleen und Oleandersträuchern seinesgleichen sucht. Dafür sorgt heute unter anderen Frank Böhm. Der 76-Jährige hat schon vor 35 Jahren mit seiner Familie in Nes Ammim gelebt. Jetzt ist er als „Senior Volunteer“ zurückgekehrt. In brauner Arbeitshose und roten Hosenträgern schneidet er Hecken oder hält Wege in Schuss. Der pensionierte Religionspädagoge aus Heidelberg will dabei mithelfen, dass es im Dorf nach der Coronakrise wieder aufwärts geht. „Ich habe das Gefühl, dass ich hier gebraucht werde. Das Dorf ist mir ein Stück Heimat geworden.“

Anja Mendouga fühlt sich ebenfalls eng mit Israel verbunden. „Der Charme von Israel ist die Mischung aus einem westlichen Land und den vielen historischen und religiösen Bezügen“, sagt die IT-Spezialistin. Besonders berührend: der Kontakt mit Überlebenden des Holocaust und ihren Nachfahren. „Der Großteil der Menschen, die man hier trifft, sind persönlich betroffen. Das ist für mich jedes Mal aufs Neue ein Appell: Wir dürfen nicht aufhören, gegen alle Formen von Antisemitismus und Extremismus zu arbeiten.“

Auch ihr Blick auf das Christentum hat sich verändert. „Jesus war Jude“, sagt sie im Videotelefonat. „Und wir können ihn nur dann wirklich verstehen, wenn wir bereit sind, vom Judentum zu lernen, anstatt uns darüberzustellen, wie es leider viel zu oft in der Geschichte passiert ist.“ Sie spricht von einem „Augenöffner“, weil sie in Israel so viele Aha-Effekte erlebt habe.

Das ging auch Peter Noack so. Er war von seinem Freiwilligendienst und Israel so fasziniert, dass er heute Vorsitzender des deutschen Nes-Ammim-Vereins mit Sitz in Düsseldorf ist. „Nes Ammim ist ein guter Ort, um das Land zu erkunden und mit seinen vielen Facetten kennenzulernen“, sagt der 31-jährige Islamwissenschaftler, der nach dem Abitur ein Jahr lang als Freiwilliger im Dorf war. Ein Studienprogramm helfe den Freiwilligen, das Land zu verstehen. „Und wir stellen sogar Autos zur Verfügung.“

Eines jedoch bereitet ihm derzeit Kopfzerbrechen: Seit der Coronakrise zögerten die israelischen Behörden bei der Vergabe von Freiwilligen-Visa für Nes Ammim. So gibt es momentan nur wenige Freiwillige im Dorf, die im Hotel und im Garten arbeiten. „Es fühlt sich so an, als wäre immer noch Lockdown“, sagt Noack, der aus Hoyerswerda in Sachsen stammt. Über die Gründe kann er nur rätseln – doch er ist zuversichtlich, dass das Problem gelöst werden kann.

Es ist nicht das erste Mal, dass Nes Ammim mit Widerständen zu kämpfen hat. Schon vor 60 Jahren gab es Gegenwind: Ein Rabbiner fürchtete damals, dass die Siedlung eine Missionsstation werden sollte, um Juden zum Christentum zu bekehren. Später wurde er ein enger Partner im jüdisch-christlichen Gespräch. Einige Jahre danach gab es Proteste von Holocaust-Überlebenden: Sie waren dagegen, dass Deutsche aus dem „Land der Täter“ nach Nes Ammim ziehen. Doch auch hier entstand Vertrauen.

Um die Jahrtausendwende machten wirtschaftliche Sorgen dem Dorf zu schaffen. Eine Rosenzucht und eine Tischlerei, jahrzehntelang Markenzeichen von Nes Ammim, mussten eingestellt werden. Mehrmals stand das Dorf am Rand der Pleite. Daher war klar, dass sich die Siedlung neu orientieren muss. Die Idee eines Dorfs des Dialogs entstand: Die Eigentümer verkauften Grundstücke an jüdische und arabische Familien, die jetzt fest zum Dorf gehören. Heute steht Nes Ammim mit seinen 400 Einwohnern wirtschaftlich besser da als je zuvor. (2187/14.09.2023)