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Claude Lanzmann und sein Film “Shoah”: Damit wir das nie vergessen

Mehr als zwölf Jahre seines Lebens hat Claude Lanzmann (1925-2018) der Vorbereitung seines monumentalen Erinnerungsfilms „Shoah“ gewidmet. Das neueinhalbstündige Werk ist bis heute die wichtigste und umfassendste Dokumentation zum Massenmord an den europäischen Juden.

1973 begann der französische Regisseur und Journalist mit der Recherche, 1978 mit den Dreharbeiten in vielen Ländern. Vor 40 Jahren, im April 1985, hatte „Shoah“ Premiere in Paris, im Mai in Cannes, in der Bundesrepublik Deutschland im Februar 1986 auf der Berlinale. Auch 40 Jahre später hat die Dokumentation nichts von ihrer Wirkung und Kraft verloren hat. Zurzeit ist sie in der arte-Mediathek zu sehen.

Lanzmann selbst hat diesen Film als sein „Lebenswerk“ bezeichnet. Er spricht in „Shoah“ mit Überlebenden des Genozids, aber auch mit anderen, etwa mit den Anwohnern der Vernichtungslager. Und er interviewte Täter, die den Massenmord organisiert und ausgeführt hatten, gefilmt teilweise mit versteckter Kamera.

„Ich bin ein Chronist“, hat er einmal in einem Interview mit der „Süddeutschen Zeitung“ gesagt. „Kein Arzt, kein Staatsanwalt, kein Richter und auch kein Nazijäger. Ich wollte die Geschichte verstehen und sie weitererzählen. Damit wir, Sie und ich, unseren Kindern weitererzählen können, was sich da ereignet hat. Damit wir das nie vergessen.“

Als Lanzmann mit der Arbeit an „Shoah“ begann, hatte er schon einen ersten Film gedreht: „Pourquoi Israël“ („Warum Israel“) aus dem Jahr 1973. Ein Vierteljahrhundert nach Gründung des Staates Israel wagte Lanzmann damals eine Bestandsaufnahme und lieferte ein komplexes, durchaus auch widersprüchliches Panorama zum Selbstverständnis der israelischen Bürgerinnen und Bürger.

Lanzmann wurde 1925 im französischen Bois-Colombes bei Paris in eine säkulare jüdisch-französische Familie hineingeboren; seine Großeltern waren aus Lettland, Belarus und der Ukraine eingewandert. Als Kommunist kämpfte der junge Lanzmann auf Seiten der Résistance gegen die Nazis. Er begann an der Sorbonne ein Studium der Philosophie, das er dann in Tübingen und Berlin fortsetzte.

Jean-Paul Sartre holte ihn 1952 in die Redaktion der politisch-literarischen Zeitschrift „Les Temps Modernes“, später wurde Lanzmann ihr Herausgeber. Mit Simone de Beauvoir lebte er eine Zeitlang zusammen. In den 1950er Jahren reiste Lanzmann das erste Mal nach Israel. Für die Zeitschrift stellte er eine tausendseitige Sondernummer zusammen: „Le conflit israélo arabe“ (Der israelisch-arabische Konflikt), die Beiträge von israelischen und arabischen Autoren enthielt und im Juni 1967 erschien.

Von einem Mitarbeiter des israelischen Außenministeriums soll die Idee zu „Shoah“ dann an Lanzmann herangetragen worden sein. In dem Film besucht er auch die Stätten der Vernichtung, damals mitunter schon zugewachsen von Bäumen und Büschen. „Shoah“ ist kein reiner Interviewfilm, auch wenn die Gespräche den Kern bilden. Immer wieder zeigt Lanzmann Züge und Waggons, die den Rhythmus des Films bestimmen und Symbole sind für die industriell arbeitende Vernichtungsmaschinerie der Nationalsozialisten.

Vieles in „Shoah“ ist sichtbar inszeniert, etwa in einem Friseursalon in Israel das Gespräch mit Abraham Bomba, der in Treblinka Frauen die Haare schneiden musste, bevor sie in der Gaskammer ermordet wurden. Aber es wird nie zu einem Reenactment, wie wir das aus den Geschichtssendungen des Fernsehens kennen, zu einer plumpen Nachstellung. Lanzmann selbst hat deshalb den Begriff Dokumentarfilm für sein Werk immer abgelehnt. „Ich habe das überhaupt erst komplett hergestellt, was man auf der Leinwand sieht“, sagte er. „Shoah“ wurde 2023 ins Unesco-Weltdokumentenerbe aufgenommen.

Auf Archivmaterial hat Lanzmann verzichtet, zum einen, weil es keine Filmaufnahmen aus den Vernichtungslagern selbst gibt, zum anderen, weil er die bildliche Darstellung der Gräuel für eine falsche Annäherung an den Massenmord hielt. Als „Schindlers Liste“ von Steven Spielberg 1994 in die Kinos kam, befürchtete Lanzmann, wie zuvor schon bei der Fernsehserie „Holocaust“ eine „Trivialisierung“, die die Einzigartigkeit des Holocaust zunichte mache.

Lanzmann hat nach „Shoah“ aus seinen mehrere hundert Stunden Filmmaterial, das heute im United States Holocaust Memorial Museum in Washington verfügbar ist, noch Einzelfilme zu Personen und Themen zusammengestellt. Dazu gehören etwa „Sobibor, 14. Oktober 1943, 16 Uhr“ (2001) über den Aufstand im Vernichtungslager Sobibor, der in „Shoah“ nicht vorkam, oder „Der letzte der Ungerechten“ (2013) über Benjamin Mummelstein, den letzten Vorsitzenden des Judenrats von Theresienstadt.

Kurz vor Lanzmanns Tod am 5. Juli 2018 erschien sein letzter Film aus „Shoah“-Material, der Vierteiler „Die vier Schwestern“: Gespräche mit vier Frauen, die nur in einem übertragenen Sinn Schwestern sind. Besonders bewegend ist das Interview mit Ruth Elias, die erzählt, wie sie in einem Experiment des NS-Lagerarztes Josef Mengele ihr frischgeborenes Baby nicht stillen durfte. Weil der wissen wollte, wie lange ein Baby ohne Nahrung überleben kann. Lanzmann selbst hat einmal gesagt, dass „Shoah“ ein Film ohne Ende ist.