Chronist der neuen Weiblichkeit

Schmale lange Gesichter, aus denen mandelförmige Augen wie abwesend in die Ferne blicken: Die Menschenbilder des französisch-italienischen Malers und Bildhauers Amadeo Modigliani (1884 -1920), darunter zahlreiche Porträts von Frauen, halten die Betrachter auf Distanz. Das trifft auch auf seine Aktdarstellungen zu. Insbesondere die deutlich sichtbare Schambehaarung machte sie auf einer Einzelschau des Künstlers in Paris 1917 zum Skandal, die provozierenden Bilder mussten auf polizeiliche Anordnung hin abgehängt werden. Mit der Ausstellung „Modigliani. Moderne Blicke“ will das Museum Barberini in Potsdam mit der Vorstellung brechen, der Künstler bediene männlichen Voyeurismus.

Erstmals wird Modigliani hier bis zum 18. August als Porträtist eines neuen Frauentypus der Zeit ab 1910 und Vorläufer der Neuen Sachlichkeit gewürdigt, der seine Modelle souverän und auf Augenhöhe malte. Die Schau, die in Kooperation mit der Staatsgalerie Stuttgart entstand und dort ihre erste Station hatte, bricht dabei bewusst mit Klischees. Der Nachruhm des Künstlers nach seinem frühen Tuberkulosetod 1920 war überlagert von Legenden, die ihn vor allem als Frauenhelden und Trunkenbold sehen.

„Wir haben festgestellt, dass er in den 1910er Jahren in Paris nochmal einen neuen Blick in die Kunst bringt,“ erklärt Ortrud Westheider, Direktorin des Museum Barberini, gemeinsam mit Christiane Lange, Direktorin der Staatsgalerie Stuttgart und Kuratorin der Schau: „Er ist der erste Chronist der Frauenemanzipation.“

Mit insgesamt 56 Porträts und Akten Modiglianis, ergänzt durch 33 Gemälde, Zeichnungen und Skulpturen von Künstlerinnen wie Natalja Gontscharowa, Paula Modersohn-Becker und Jeanne Mammen, und Künstlern wie Egon Schiele, Gustav Klimt und Pablo Picasso, zeigt die Ausstellung Modiglianis Werke im Kontext der europäischen Kunst der Zeit.

Den Auftakt des Rundgangs bildet die Ankunft des in Italien ausgebildeten Künstlers in Paris. 1906 bezog Modigliani sein erstes Atelier am Montmartre. Sein erster Sammler, der Arzt Paul Alexandre, hatte Künstlern ein Abrisshaus zur Verfügung gestellt. Fotografien dokumentieren die illustre Gesellschaft, die sich hier traf und die Modigliani malte. Frühe Zeichnungen geben Einblick in Revuetheater und modernen Tanz, die seine Kunst beeinflussten.

Ein Kapitel zeigt die kosmopolitischen Künstlerkreise, die sich während des Ersten Weltkriegs, als der Pariser Kunstbetrieb brach lag, am Montparnasse trafen. Der Avantgarde der Zeit setzte Modigliani mit seinen unverwechselbaren Porträts ein Denkmal. Mitunter, etwa in dem Porträt seines Künstlerfreundes Chaim Soutine von 1915, ist in der Dominanz des Geometrischen Modiglianis Herkunft von der Bildhauerei erkennbar. Ab 1915 widmete er sich aus gesundheitlichen Gründen ganz der Malerei.

Ein Kapitel im Barberini ist ganz Modiglianis Porträts der modernen Frau gewidmet. Lange vor der Neuen Sachlichkeit schuf er Bilder, in denen er Modeschöpferinnen, Schriftstellerinnen und Künstlerinnen als emanzipierte Frauen im Stil der femme garconne mit Bubikopf und in maskuliner Kleidung porträtierte. Etwa die Buchhändlerin und Verlegerin Elena Povolozky, die er 1917 mit selbstbewusstem Blick in Männerkleidung malte, das kurze dunkle Haar ist aus der Stirn gekämmt.

Modiglianis Blick auf die emanzipierte Frau, so die These der Ausstellung, bestimmt auch seine Aktdarstellungen, die 1917 in der Galerie Berthe Weill gezeigt wurden und zum Skandal führten. Dabei knüpft Modigliani an Venusdarstellungen der Renaissance an. Jedoch zeigt er seine Modelle in provozierenden Bildausschnitten und aus der Nahsicht, wie bereits vor ihm Paula Modersohn-Becker oder Emilie Charmy. Die Körpersprache ist selbstbewusst und entzieht sich dem sexualisierten Blick. Nacktheit sei bei Modigliani auch ein Indiz weiblicher Selbstermächtigung, betont Kuratorin Westheider. Damit macht die Ausstellung Modigliani zum Chronisten der Frauenemanzipation im frühen 20. Jahrhundert.