Christina Fonthes hat ein Buch über zwei Frauen aus dem Kongo geschrieben, die sich im regennassen London anschweigen. Trotzdem sind sie aufs Engste miteinander verbunden.
Palmen, der Fluss Zaire – längst heißt er Kongo -, ein Swimmingpool und der Vater, der einen weißen Mercedes fährt. Christina Fonthes’ Debütroman “Wohin du auch gehst” beginnt im Jahr 1974 in Gombe, Nobelviertel der kongolesischen Hauptstadt Kinshasa. Die Unabhängigkeit jährt sich zum 14. Mal. Jubel auf den Straßen, schließlich wütete Belgien als einstige Kolonialmacht in der riesigen rohstoffreichen Regionen, die fast halb so groß wie die EU ist, besonders brutal.
Doch es braucht nur wenige Seiten, um zu spüren, dass die ausgelassene Stimmung bald kippen wird. Zu schön ist der Erfolg der Familie, zu instabil das Land. Aber es ist vor allem eine Beobachtung, die Protagonistin Mira nach einem Restaurantbesuch mit Eltern und Schwester macht: In der Dunkelheit ist Stimmengewirr zu hören, Rauch steigt auf. Sie sieht eine rußschwarze, leblose Gestalt an einen Holzpfahl gebunden. “Man hat sie zusammen erwischt, zwei Frauen”, antwortet ihre ältere Schwester Ya Eugénie knapp.
Eines der zentralen Themen ist gesetzt. Denn der erste Roman der 1987 in Kinshasa geborenen britisch-kongolesischen Autorin ist mehr als nur eine Familiengeschichte, die sich durch vier Länder – Kongo, Belgien, Frankreich und England – und drei Generationen zieht. In “Wohin du auch gehst” geht es auch um queere Liebe, die die ältere Mira – längst ist sie vor der Vergangenheit nach Europa geflüchtet und zur religiösen Tantine Mireille geworden – zutiefst “unafrikanisch” findet. Es ist eine Debatte, die in vielen Ländern des Kontinents aktuell ist, mit deutlichen Tendenzen zu verschärften Gesetzen, Diskriminierung und Ablehnung.
Doch was ist passiert, dass aus der kleinen, aufgeweckten Mira, die später als neugieriger Teenager heimlich die Clubs von Kinshasa besucht und sich in den Leadgitarristen einer Band verliebt, die verbitterte Tantine Mireille geworden ist?
Ihre Distanziertheit belastet und verunsichert Bijoux, die als Elfjährige zu ihr nach London geschickt wird und dort bleiben muss. Zu ihrer Tante, die sie nicht kennt und die eine Fremde ist. Vom einstigen bequemen Leben in Kinshasa ist längst nichts mehr geblieben. Tantine Mireille geht putzen, arbeitet in einer Fabrik und hat trotzdem nicht einmal Geld für eine zweite Matratze. Feste Begleiter sind nur Jesus, Papa Pasteur und die Frauen aus der Freikirche “The Mountain”, meist Kongolesinnen, die in den Sonntagsgottesdiensten ein bisschen Heimat ist regennasse und fremde London holen und die kongolesische Identität hochhalten.
Es ist eine Diaspora-Erfahrung, die viele Migranten in Europa und den USA teilen. Halt gibt Tantine Mireille ihre Kirche, die zugleich Netzwerk und Hilfeeinrichtung ist. Gleichzeitig sorgt sie dafür, dass Werte und Moralvorstellungen aus der tausenden Kilometern entfernten Heimat weiterhin fester Bestandteil des Alltags sind – ein Umdenken ist ausgeschlossen.
Vor allem Bijoux spürt das. Mittlerweile ist sie eine junge Anwaltsgehilfin und verliebt; ausgerechnet in Kay, eine immer etwas nach Rum und Hasch riechende Künstlerin. Tantine Mireille will, dass Bijoux diese Dämonen ausgetrieben werden, dass sie einen Mann heiratet. Sprechen will sie nicht.
“Schweigen heißt nicht, dass nichts zu hören ist; Schweigen ist eine Sprache. Und wie jede Sprache muss man sie erlernen”, sagt Bijoux. Tatsächlich hat Christina Fonthes einen Familienroman über das Schweigen und die grausamen – und unnötigen – Konsequenzen geschrieben.
Der eine oder andere Schicksalsschlag, den die Frauen dabei erleben, mag etwas zu viel des Unglücks sein und wirkt zu konstruiert; nicht auch das noch. Die ineinandergewobene, schlicht und zugleich kräftig erzählte Familiengeschichte von Mira – Tantine Mireille – und Bijoux benötigt die allzu dramatischen Seitenstränge nicht.
Denn auch ohne sie ist “Wohin du auch gehst” ein “atemberaubender Roman, der lesbische Liebe, den Kongo und Großbritannien sowie familiäre und kulturelle Erwartungen in einer dynamischen generationsübergreifenden Geschichte thematisiert”, wie Booker-Prize-Trägerin Bernardine Evaristo schreibt.