Bundespräsident: Deutschland heute viel mehr als Ost und West

Nach einem Rundgang über die Leipziger Buchmesse nahm Bundespräsident Steinmeier am Abend zwei Jubiläen zum Anlass für eine Rede: 35 Jahre friedliche Revolution und 75 Jahre Grundgesetz.

Im 35. Jahr nach der friedlichen Revolution sieht Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier das wiedervereinigte Deutschland zusammengewachsen. „Wir sind heute ein Land, das viel mehr ist als Ost und West“, sagte er am Donnerstagabend bei seiner Leipziger Rede anlässlich des Jubiläums in diesem Jahr. „Die Frage, inwieweit die innere Einheit vollzogen ist, ist heute, 35 Jahre nach der Friedlichen Revolution, nicht mehr die entscheidende.“

In einer Gesellschaft, die so vielfältig sei wie die deutsche, werde es immer unterschiedliche Erfahrungen, unterschiedliche Resonanzräume geben, je nachdem, wo man lebe, wo man aufgewachsen sei, so Steinmeier weiter. „Nur eines darf nicht passieren: Dass diese unterschiedlichen Erfahrungswelten zu isolierten Rückzugsorten werden, um die herum Mauern hochgezogen werden.“ Die Gesellschaft brauche Neugier statt Selbstbespiegelung, Offenheit statt Rückzug, Vertrauen statt Misstrauen, Vorschläge statt Vorwürfe.

Der Bundespräsident würdigte den Einsatz der Zehntausenden Demonstranten, die im Oktober/November 1989 für die Freiheit in Leipzig und anderen ostdeutschen Städten auf die Straßen gingen: „Es war dieser Mut, diese Kraft der Menschen, die die Mauer zum Einsturz brachten. Sie ist ja nicht einfach gefallen, wie wir gerne sagen. Den Mutigen von damals verdanken wir, dass wir seit fast 34 Jahren wiedervereint sind. Wir können dafür nicht dankbar genug sein.“ Manchmal wünsche er sich, wenn er heute im Land unterwegs sei, „ein wenig von der Aufbruchstimmung von damals, von diesem Zusammenhalt, von diesem Mut“. Zugleich sei er sich ganz sicher: „All das steckt noch immer in unserem Land und seinen Menschen.“

Steinmeier äußerte sich erfreut über einen Wandel in der Ost-West-Diskussion: „In der heutigen Debatte sind ostdeutsche Stimmen selbstbewusst nicht nur in eigener Sache, sondern sie urteilen maßgeblich mit darüber, was ganz Deutschland ausmacht und wohin unser Land als Ganzes sich entwickeln soll. Das ist ein wichtiger Schritt, auch und gerade dort, wo wir streiten, wo wir ringen.“ Demokratie finde nur Gestalt im Ringen um den wichtigen Weg.

Der Bundespräsident verwies auch auf den 75. Geburtstag des Grundgesetzes in diesem Jahr. Er sehe aber ein wenig mit Sorge, „dass gerade viele Ostdeutsche das Gefühl haben, dass das nicht ihr Jubiläum ist“. Die Verfassung sei das gemeinsame Fundament und Grundlage wie Garant für das friedliche Zusammenleben aller Menschen in Deutschland. Und: „Das Grundgesetz ist längst kein ‚Bonner‘ mehr.“

Anfänglich unterbrach eine pro-palästinensische Zwischenruferin mehrfach lautstark Steinmeiers Rede. Er konterte: „Wir sind nicht einer Meinung. Aber wir haben Ihre Botschaft gehört.“ Am Nachmittag hatte der Bundespräsident einen Rundgang über die Buchmesse gemacht.