„Brot für die Welt“-Chefin sieht Zivilgesellschaft massiv gefährdet

Seit mehr als 60 Jahren kämpft das evangelische Hilfswerk „Brot für die Welt“ gegen Hungerkatastrophen an. Doch autoritäre Regierungen und bewaffnete Akteure machen die Arbeit lokaler Partnerorganisationen immer schwerer.

Dagmar Pruin leitet "Brot für die Welt seit März 2021
Dagmar Pruin leitet "Brot für die Welt seit März 2021epd-bild / Christian Ditsch

Wie hat sich die Arbeit von „Brot für die Welt“ und ihrer Partnerorganisationen seit Beginn der Corona-Pandemie vor etwa zwei Jahren verändert?
Dagmar Pruin: Sie ist nicht gerade einfacher geworden. Wir beobachten mit Sorge, dass es nicht wenige Länder gibt, die Freiheitsrechte eingeschränkt haben. Einige Regierungen haben die Pandemie dafür zum Vorwand genommen. Weil fast alle Organisationen, mit denen wir zusammenarbeiten, sich als Teil der Zivilgesellschaft definieren, ist ihr Handlungsspielraum dadurch eingeschränkt. Gleichzeitig hat Corona für viele Krisen wie ein Brandbeschleuniger gewirkt. Die Zahl der Hungernden etwa ist massiv angestiegen.

Sie haben schon vor der Pandemie weltweit „Shrinking Spaces“ beklagt, also immer kleiner werdende Handlungsräume für die Zivilgesellschaft. Inwieweit wird auch die Entwicklungszusammenarbeit zunehmend von ihren Gegnern politisiert?
In den Ländern, in denen wegen bestimmter politischer Tendenzen die Handlungsräume kleiner werden, bedeutet das auch für die Entwicklungszusammenarbeit aus ganz unterschiedlichen Gründen Einschränkungen. Indien ist zum Beispiel ein Land, wo wir das ganz stark merken und unsere Arbeit erschwert wird – etwa durch Gesetze, die es schwieriger machen, Organisationen vor Ort finanziell zu unterstützen. Für uns, die mit lokalen Partnern arbeiten, hat das natürlich sofort Einfluss auf die Arbeit. Das sehe ich schon mit großer Besorgnis.

Wie gehen Sie denn bei den Projekten in Indien damit um?
Dazu möchte ich mich nicht im Detail äußern, weil das unsere Partner gefährden könnte. Das ist etwas, was ich nie machen will: unsere Partner gefährden.

Wie groß ist denn das Problem weltweit?
Inzwischen können nur noch drei Prozent der Menschen auf der Welt uneingeschränkt ihre zivilgesellschaftlichen Rechte wahrnehmen. Das ist eine unglaubliche Zahl. Ich habe vor zehn Jahren nicht damit gerechnet, dass sich das derart verschärft. Damals dachten wir eigentlich, wir seien auf einem anderen Weg.

Wäre es einfacher, wenn „Brot für die Welt“ selbst vor Ort wäre, etwa über aus Deutschland entsandte Fachleute?
Das kommt auf die politische Situation an. Die Arbeit vor Ort kann genauso angreifbar werden. Dadurch, dass wir so eng mit den Partnerorganisationen zusammenarbeiten – wir finanzieren sie ja nicht einfach nur – sind wir in den Ländern stark verortet. Unsere Partner können Situationen besser einschätzen und in Kontexten arbeiten, wie es gar nicht möglich wäre für aus Deutschland Entsandte. Von daher ist das eine große Stärke.

In Äthiopien arbeiten Sie seit langem. Von dort hören wir im Konflikt um die Tigray-Region immer wieder davon, dass humanitäre Hilfe nicht zur leidenden Zivilbevölkerung gelangt. Wie gehen Sie damit um?
In Äthiopien sind wir sowohl mit der Diakonie Katastrophenhilfe in der Nothilfe tätig als auch mit „Brot für die Welt“ in der Entwicklungszusammenarbeit. Wir arbeiten da hauptsächlich mit den Entwicklungsdiensten der Mekane-Yesus-Kirche und der Orthodoxen Kirchen zusammen. Aber auch hier möchte ich mit Blick auf die Sicherheit der Partnerorganisationen nicht zu viele Details nennen. Dort herrscht eine sehr fragile Situation vor, wegen der man zurückhaltend sein muss. Wir können aber dank unserer lokalen Partner, die im Land verwurzelt sind, aktuell noch gut weiterarbeiten. Wir haben aber große Sorge, dass der Konflikt noch weiter eskaliert.

Auch in Äthiopien hilft "Brot für die Welt" – hier wird eine Bewässerungsanlage gebaut
Auch in Äthiopien hilft "Brot für die Welt" – hier wird eine Bewässerungsanlage gebautChristof Krackhardt / Brot für die Welt

In Konfliktregionen wird die Nothilfe zunehmend von Kriegsparteien instrumentalisiert. Wie schmal ist der Grat, wenn man dort helfen möchte und das weiß?
Wie arbeitet man sowieso, wenn Hunger als Waffe eingesetzt wird? In der Nothilfe stellt man die Menschen und deren Bedürfnisse in den Mittelpunkt. Bei der Entwicklungszusammenarbeit ist die Stärkung der Zivilgesellschaft unglaublich wichtig, weil nur eine starke Zivilgesellschaft eine Wächterinnenfunktion gegenüber dem Staat übernehmen kann. Das ist übrigens auch bei uns in Deutschland so: Wir haben alle gemerkt, welchen Impuls Fridays for Future gesetzt hat. Wir hätten sonst jetzt einen ganz anderen Koalitionsvertrag.

Eine wichtige Gruppe in der Zivilgesellschaft sind die Frauen. Und die haben in der Corona-Zeit doppelt gelitten. Was tun Sie, um den Frauen mehr zu helfen?
„Brot für die Welt“ hat den Kampf gegen die Ausbeutung von Frauen und Mädchen in diesem Jahr als eines von fünf strategischen Zielen definiert. Zum einen, weil Frauen oft die Motoren in der Zivilgesellschaft sind, und zum anderen weil die Einschränkung der Rechte von Frauen und Mädchen ein Maßstab dafür ist, dass auch die Rechte insgesamt eingeschränkt werden. Die Gleichstellung von Frauen und Mädchen haben wir ebenfalls sehr sorgfältig im Blick.

Wie haben Sie sich in der Corona-Pandemie für die Stärkung der Frauen und Mädchen engagiert?
Corona hat hier vieles offengelegt und verschärft. Durch die monatelange Ausgangssperre mussten die Menschen viel Zeit zu Hause verbringen. Viele Frauen waren dadurch verstärkt häuslicher Gewalt ausgesetzt. Ein Projektpartner in Peru etwa hat eine Kampagne gegen häusliche Gewalt gestartet und bildet junge Menschenrechtsverteidiger und -verteidigerinnen aus, die die Frauen beraten und sie unterstützen, Anzeige zu erstatten.

Sie sind seit März an der Spitze von „Brot für die Welt“ und Diakonie Katastrophenhilfe, was ist bislang ihre Bilanz? Und was nehmen Sie sich fürs nächste Jahr vor?
Meine Bilanz ist, dass ich sehr begeistert bin, was ich hier im Haus sehe, und wie engagiert und kompetent unsere Kolleginnen und Kollegen arbeiten. Wie die Sachen durchdacht und miteinander verzahnt sind. Das habe ich erhofft, aber es zu erleben ist etwas anderes.

Was ich mir persönlich vornehme ist, endlich zu reisen. Ich konnte durch die Corona-Pandemie bisher noch gar nicht ins Ausland reisen. Das vermisse ich. Ich bin für die Diakonie Katastrophenhilfe in Westdeutschland gewesen: Bei der Flut im vergangenen Sommer habe ich mit den betroffenen Menschen vor Ort gesprochen. Aber jetzt freue ich mich darauf, internationale Projektpartner zu besuchen. Auch wenn wir immer prüfen, ob die Reise notwendig ist, ist es dennoch wichtig, dass ich bestimmte Projekte und die Arbeit der Partner auch vor Ort sehe. Die erste Auslandsreise soll nach Westafrika gehen – wenn es die Corona-Lage zulässt. (epd)