Die Juristin Brosius-Gersdorf sieht ihre Position zu Abtreibungen in einigen Medien falsch dargestellt. Es stimme nicht, dass sie dem ungeborenen Leben die Menschenwürdegarantie abspreche. Ein Blick in ihre Texte.
Die Verfassungsrechtlerin Frauke Brosius-Gersdorf steht für Aussagen zu Menschenwürde und Lebensschutz von ungeborenen Kindern in der Kritik. Zu den Themen äußerte sich die Juristin 2024 im Abschlussbericht einer von der Ampel-Regierung eingesetzten Kommission sowie in einer Festschrift für den Verfassungsrechtler Horst Dreier. Die Katholische Nachrichten-Agentur (KNA) dokumentiert zentrale Aussagen aus den beiden Texten:
“Der Verfassungstext gibt keine explizite Antwort auf die Frage, ob und inwieweit die Garantie der Menschenwürde nach Art. 1 Abs. 1 GG für den Embryo/Fetus im Mutterleib gilt. Die Aussagekraft der Verfassungs- und Entstehungsgeschichte des Art. 1 Abs. 1 GG für den Menschenwürdeschutz des Ungeborenen ist umstritten. Die Frage ist daher mittels Auslegungsgesichtspunkte zu ermitteln. (…)
Für eine Entkoppelung von Menschenwürde- und Lebensschutz und die Geltung des Art. 1 Abs. 1 GG erst für den Menschen ab Geburt sprechen gute Gründe. Zwischen dem Embryo/Fetus im Mutterleib und dem geborenen Menschen existieren trotz ihrer beider Zugehörigkeit zur Spezies Mensch, der kontinuierlichen Entwicklung des Embryos/Fetus, seiner Identität mit dem späteren geborenen Menschen und seinem Potenzial, sich zum geborenen Menschen zu entwickeln, im Hinblick auf die Würdebegabung Unterschiede. (…)
Zudem entzieht sich Art. 1 Abs. 1 GG nach tradiertem – wenngleich heute wohl nicht mehr bruchlos gültigem – Verständnis der Menschenwürdegarantie jeder Einschränkbarkeit und Abwägungsfähigkeit mit anderen Verfassungsgütern. Würde man bereits dem Embryo/Fetus ab Nidation vollen Menschenwürdeschutz zuerkennen, schiede daher in der Konsequenz ein Güterausgleich mit den Grundrechtspositionen der Schwangeren aus. Das müsste dann auch in den Fällen der medizinischen Indikation gelten. (…)
Denn selbst bei Annahme einer Geltung des Art. 1 Abs. 1 GG ab Nidation mit vollem Schutz gälte wohl weder ein generelles Verbot der Abwägung der Menschenwürdegarantie des Embryos/Fetus noch wäre seine Menschenwürde durch einen Schwangerschaftsabbruch verletzt. (…)
Das spricht dafür, ein verfassungsrechtliches (…) Lebensrecht des Ungeborenen (jedenfalls) ab Nidation anzu(er)kennen; ob es sich “durchsetzt” gegenüber den Grundrechten der Schwangeren ist eine Frage der verfassungsrechtlichen Güterabwägung. (…)
Das Konzept eines geringeren Lebensschutzes des Embryos/Fetus ist auch widerspruchsfrei zum uneingeschränkten Lebensrecht des geborenen Menschen, bei dem sich unabhängig von seinem Entwicklungs- und Bewusstseinsstadium wegen der formalen Gleichwertigkeit aller (geborenen) Menschen jede Schutzabstufung verbietet. (…)
Einem abgestuften oder kontinuierlich anwachsenden Lebensschutz für das vorgeburtliche Leben widerspricht es auch nicht, bei einer Geltung des Art. 1 Abs. 1 GG für den Embryo/Fetus ab Nidation von einem vollwertigen, unabgestuften Würdeschutz (wie beim geborenen Menschen) auszugehen. (…)
– Für gewisse Schutzabstufungen in der Zeit zwischen der Lebensfähigkeit ex utero und Geburt einerseits (starker, aber kein vollwertiger Schutz des Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG) und nach Geburt andererseits (vollwertiger Schutz des Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG) spricht, dass auch der extrauterin lebensfähige Embryo/Fetus für die Menschwerdung noch auf die Geburt und damit auf einen Mitwirkungsakt der Schwangeren angewiesen ist. Wendete man Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG für den Embryo/Fetus ab Lebensfähigkeit ex utero mit der gleichen, umfassenden Schutzintensität an wie für den Menschen nach Geburt, läge in der Spätphase der Schwangerschaft bei einem Konflikt mit dem Lebensrecht der Schwangeren eine schwer lösbare verfassungsrechtliche Kollisionslage vor und könnte ein Schwangerschaftsabbruch selbst in Fällen einer medizinischen Indikation unzulässig sein. (…)
Wegen der existenziellen Abhängigkeit des Ungeborenen vom Körper der Schwangeren spricht viel dafür, dass das Lebensrecht pränatal mit geringerem Schutz zum Tragen kommt als für den geborenen Menschen. Im Zeitraum zwischen Nidation und extrauteriner Lebensfähigkeit des Fetus gilt entweder ein gleichbleibend geringes Schutzniveau oder ein Konzept des pränatal gestuften oder kontinuierlich anwachsenden Lebensrechts, dessen Schutz sich am jeweiligen Entwicklungsstadium des Embryos/Fetus orientiert. Ab extrauteriner Lebensfähigkeit des Fetus hat sein Lebensrecht starkes Gewicht. Ab Geburt gilt das Lebensrecht des Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG mit vollwertigem Schutz. (…)
Ein Konzept des pränatal geringeren Lebensschutzes ist deshalb kein Einfallstor für postnatale Lebensrechtsdifferenzierungen. (…)
Ob dem Embryo/Fetus der Schutz der Menschenwürdegarantie (Art. 1 Abs. 1 GG) zugutekommt, ist fraglich. Es gibt gute Gründe dafür, dass die Menschenwürdegarantie erst ab Geburt gilt. Doch selbst sofern man von einer vorgeburtlichen Geltung der Menschenwürdegarantie ausginge und sie in diesem Fall mit dem gleichen, vollwertigen Schutz wie für den geborenen Menschen Anwendung fände, bestünde wohl nicht per se ein generelles Abwägungsverbot mit den Grundrechten der Schwangeren. Und selbst bei – unterstellter – Annahme von vollwertigem Menschenwürdeschutz für den Embryo/ Fetus, gibt es Argumente dafür, dass die Menschenwürdegarantie durch einen Schwangerschaftsabbruch im Regelfall nicht verletzt wäre. (…)
In den ersten Schwangerschaftswochen nach der Nidation treten die Belange des Embryos/Fetus hinter den Grundrechten der Schwangeren zurück. In der Frühphase der Schwangerschaft hat das Lebensrecht des Ungeborenen eher geringes Gewicht; gleichzeitig genießt das Verlangen der Frau nach einer Beendigung der Schwangerschaft starken grundrechtlichen Schutz. Der Frau steht in dieser Schwangerschaftsphase ein Recht auf Schwangerschaftsabbruch zu. Der Schwangerschaftsabbruch ist daher in der Frühphase der Schwangerschaft – anders als bislang – rechtmäßig zu stellen. (…)
Ab extrauteriner Lebensfähigkeit des Fetus ist es umgekehrt, dann kommt dem Lebensrecht des Fetus grundsätzlich Vorrang vor den Grundrechten der Schwangeren zu. Denn in dieser Spätphase der Schwangerschaft gilt Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG mit starkem Schutz, während die grundrechtlichen Belange der Schwangeren wegen der kürzer verbleibenden Dauer der Schwangerschaft vergleichsweise geringes Gewicht haben. Der Fetus ist in dieser späten Schwangerschaftsphase grundsätzlich weiter bis zur Geburt auszutragen. Der Gesetzgeber muss den Schwangerschaftsabbruch in dieser Spätphase daher grundsätzlich als rechtswidrig erachten.”
“Die Annahme, dass die Menschenwürde überall gelte, wo menschliches Leben existiert, ist ein biologistisch-naturalistischer Fehlschluss. Menschenwürde- und Lebensschutz sind rechtlich entkoppelt. (…)
Die Tötung eines Menschen ohne herabwürdigende Begleitumstände, die ihm seine Subjektqualität absprechen, verletzt Art. 1 I GG nicht. Ein Schwangerschaftsabbruch dürfte die Menschenwürde des Embryos/Fetus schon deshalb nicht verletzen, weil er nicht vom Staat, sondern von der Frau ausgeht. Zudem ist mit dem Abbruch regelmäßig kein Unwerturteil über den Embryo/Fetus verbunden. (…)
Bei einer schwerwiegenden und nicht heilbaren Krankheit des Fetus (…), zumal wenn sie mit hoher Wahrscheinlichkeit zum frühen Tod nach der Geburt führt, könnte unter dem Gesichtspunkt des Grundrechts des Kindes auf selbstbestimmtes Sterben (…) ein Schwangerschaftsabbruch auch bei extrauteriner Lebensfähigkeit des Fetus zulässig sein. Ob und unter welchen Voraussetzungen ein Sterbensrecht für das Ungeborene besteht und wer hierüber zu entscheiden hätte, ist nicht einmal ansatzweise geklärt.
Denkbar erscheint auch eine Parallele zum Behandlungsabbruch bzw. zum Unterlassen einer lebensrettenden Behandlung beim geborenen Menschen, durch die sein Tod eintritt.”