Blicke in finstere Abgründe, Hymne an die Schönheit

Schwarzweißfotos aus einer brasilianischen Goldmine lassen den Atem stocken. Halbnackte Menschen auf halsbrecherisch steilen Leitern, aufgestellt an Abgründen, Erdhügeln, Schluchten, das alles in schwindelerregenden Perspektivwechseln. Der Bildband „Gold“ zählt zu den fotografischen Ikonen eines Genres, das mit sozialdokumentarisch nur unzureichend beschrieben ist.

Salgado, geboren im brasilianischen Aimorés und aufgewachsen auf der elterlichen Rinderfarm, vermittelt in seinen Fotoarbeiten eine intensive Annäherung an die Menschen. Es geht um ein Ausmessen ihrer Schicksale, eine Empathie mit ihren Leiden, eine nachhaltige Anteilnahme an ihrer Heimatlosigkeit, ein tief empfundenes Mitgefühl mit den Schwächsten der Schwachen. Am 8. Februar wird der Fotograf 80 Jahre alt.

Zunächst studierte er Wirtschaftswissenschaft. 1969 emigrierte er mit seiner Frau nach Paris, das Paar hatte sich gegen die Militärdiktatur in Brasilien engagiert. Seit 1973 widmet Salgado sich ganz der Fotografie. Großformatige Bücher sind sein Hauptmedium. Neben „Gold“ waren es beispielsweise „Exodus“, „Arbeiter“, „Kinder“, „Afrika“, „Migranten“. Er zeigt Zuckerrohrarbeiter in Kuba, Schwefelsammler in Indonesien, Goldgräber in Brasilien.

Wobei seine Arbeiten immer auch als Projekte zu verstehen sind, oft unterstützt werden von Organisationen wie „Ärzte ohne Grenzen“ oder Unicef. Kein Wunder also, dass der Friedenspreis des Deutschen Buchhandels 2019 diesem weltweit agierenden Fotografen zugesprochen wurde: Sein Werk diene, wie es das Statut verlangt, dem Frieden, der Menschlichkeit und der Verständigung der Völker.

Es gibt auch Kritik, zumindest Zweifel: Ob die Fotos nicht in sich zu perfekt seien, zu sehr einer Suche nach den besten Licht- und Schatteneffekten verpflichtet, auch einer Komposition, die in sich eine eigene Schönheit berge und damit das eigentliche Sujet in den Hintergrund treten lasse? Andererseits sprechen seine Bilder sehr direkt. Sie zeigen eine schreckensgesättigte Realität in aller Deutlichkeit, gesteigert durch das abstrahierende Schwarz-Weiß, das eine andere, härtere Ebene einzieht und das Elementare, Existentielle herausarbeitet.

Der deutsche Filmemacher Wim Wenders hat der Arbeit Salgados einen Dokumentarfilm gewidmet: „Das Salz der Erde“ (2014). Co-Regisseur war Salgados Sohn Juliano Ribeiro. Der Film begleitet den Fotografen bei der Arbeit, zeigt biografische Linien, kommentiert Haupteigenschaften dieses wahrhaft epochalen Werkes, dessen Schwerpunktphasen oft mehrere Jahre umfassen.

Und er zeigt eine wichtige Scharnierstelle, nämlich die Hinwendung zu einem Projekt, das eine einzige Hymne an die Schönheit der Erde ist: Meere und Wüsten, die Arktis und der Amazonas, Seelöwen, Wale, Rentiere. „Genesis“, so lautet der Titel dieses Mammutwerks, das Salgado 2004 begann, mit atemberaubenden Einblicken in noch unberührte Landschaften und Lebensräume der Welt. Ob Salgado den Begriff der Schöpfung biblisch versteht? Er selbst spricht von einer „visuellen Liebeserklärung an die Erhabenheit und Zartheit der Welt“.

Zuvor hatte er buchstäblich in finstere Abgründe geblickt, beispielsweise bei den Aufnahmen der menschlichen Verheerungen, die der Bürgerkrieg und Völkermord in Ruanda angerichtet hatte. Auch die Fluchtbewegungen in der Sahelzone führten zu Bildern an der Grenze des Zeigbaren. „Wir sind bösartige, schreckliche Tiere, wir Menschen“, so hat der Fotograf diese Erfahrungen zusammengefasst. „Unsere Geschichte besteht aus Kriegen, eine endlose Geschichte, auch eine Geschichte der Unterdrückung, des Irrsinns.“

Nach diesen erdrückenden Erlebnissen sah sich der Vater von zwei Kindern als sozialer und humaner Fotograf zutiefst infrage gestellt. Das führte zu einer praktischen Wende, zu einem großen neuen Lebensprojekt: der Wiederbelebung der total abgeholzten Rinderfarm seines Vaters in Brasilien. Die Idee kam von seiner Frau Lélia, die einst auch seine fotografische Passion angestoßen hatte. Über 600 Hektar des kahlen und unfruchtbaren Farmgeländes wurden mit bald drei Millionen Bäumen wieder aufgeforstet. Das von Salgado gegründete „Instituto Terra“ wurde vielerorts zum Vorbild einer positiven Umwelt-Umkehr. Seine Frau ist stolz: „Diese Idee gehört nicht mehr einem allein, sondern allen.“

Dass diese neue Lebenserfahrung auch zum Werk „Genesis“, der fotografischen Hommage an den Planeten führte, verurteilten manche als Verrat an der früheren sozialkritischen Arbeit. Doch Salgado sieht „Genesis“ als ultimative Aufforderung, die Grundlagen der Schönheiten der Welt zu bewahren.