Bisexuell in der Freikirche: “Ich fühlte mich völlig einsam”
José Calvo Tello ist in evangelikalen Freikirchen aufgewachsen. Dort hieß es: Homosexualität sei Sünde. José musste seine Orientierung verstecken. Halt fand er in der evangelischen Kirche.
“Happy pride Göttingen!” steht unter dem Instagram-Post von José Calvo Tello. Daneben ein Regenbogen-Emoji. Der 37-Jährige trägt auch ein T-Shirt in Regenbogenfahnen, um die Schulter hat er sich eine bisexuelle Fahne gebunden. Das war auf dem Christopher Street Day (CSD) in Göttingen dieses Jahr.
So frei konnte sich José nicht immer zeigen. Der Familienvater ist bisexuell, mit einer Frau verheiratet und in evangelikalen Freikirchen aufgewachsen. Dort waren Homosexualität und Queerness nicht erwünscht. “Ich fühlte mich völlig einsam und isoliert, dass ich meine Orientierung verstecken musste”, blickt José auf die Zeit zurück. Vergangenes Jahr fasst der gebürtige Spanier all seinen Mut zusammen und outet sich.
Schließlich will er als Bisexueller und Teil der queeren Community ein Ansprechpartner sein für die Gemeinde. Doch mit diesem Schritt wurde er gänzlich aus der Gemeinschaft ausgeschlossen. “Irgendwann wurde mir mitgeteilt, dass ich bei bestimmten Veranstaltungen nicht willkommen sei”, sagt José. Seitdem hat sich der Göttinger von den Freikirchen verabschiedet. “Gott sei Dank”, wie er heute sagt.
Queere Gottesdienste in Göttingen geben José Kraft
Eine neue Gemeinschaft hat José, der an der Niedersächsischen Staats- und Universitätsbibliothek Göttingen arbeitet, schließlich in einer evangelischen Kirche gefunden: der Kirche in Rosdorf, einem Vorort von Göttingen. Als sich der Forscher damals bei der Pastorin geoutet hat, sagte sie: “Wenn du Diskriminierung von jemand in unserer Gemeinde erlebst, sagst du es mir und ich kläre es mit der Person”. “Ihre Reaktion war vorbildlich”, findet José.
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Bis 2023 habe es aber auch in Göttingen kein explizites Angebot für queere Christinnen und Christen gegeben, erzählt José. Doch dann habe die Evangelische Studierenden- und Hochschulgemeinde Göttingen queere Gottesdienste und eine kleine Gruppe ins Leben gerufen. José ist Teil des Teams.
Queere Menschen haben Hemmungen, offen zu sprechen
José ist im stetigen Austausch mit anderen queeren Menschen. Die Erfahrungen sind ähnlich, wie er sagt. “Es gibt große Hemmungen, offen zu sprechen”. Viele hätten bereits Ablehnung in ihrer Familie oder im näheren Umfeld erlebt und wollten dies nicht auch noch von der Kirche erfahren. Neulich habe jemand zu ihm über eine evangelische Kirche gesagt: “Hier sind alle offen für Queerness, aber keiner redet darüber.”
Das Problem: Es gebe immer noch viele Vorurteile gegenüber bisexuellen und queeren Menschen, so José. “Wenn ich mich oute, werde ich die Frage gestellt bekommen, ob ich eine offene Beziehung führe. Vor meinem Outing musste ich kein einziges Mal erklären, dass ich keine offene Beziehung habe, das war selbstverständlich, ein hetereosexuelles Privileg.” Bisexuell zu sein bedeute nur, sich zu Personen unterschiedlichen Geschlechts hingezogen zu fühlen. Es sage nichts zum Beziehungsmodell, betont José. “Entsprechende Klischees verletzen unsere Community.” José selbst ist dafür ein Beispiel: Seine Frau und er führen eine nicht-offene Beziehung.
Sensibel für queere Menschen: Was Kirchengemeinden tun können
Obwohl José in der evangelischen Kirche ein neues Zu Hause gefunden hat – auch hier gibt es noch viel zu tun, wie er sagt. Kirchen müssten vor allem ein sicherer Ort sein für alle Menschen. Die queere christliche Community brauche mehr Unterstützung. Seine Ideen:
- Progressive Flaggen aufhängen (zum Beispiel zum CSD)
- Queere Gottesdienste feiern
- Queer-sensible Seelsorge anbieten
- Geoutete kirchliche Mitarbeitende
- Queere Interpretation von biblischen Personen (Beispiel: Die Beziehung von David und Jonathan)
- Queere Chöre
- Texte und Lieder gendern
- Queere Themen und queere Personen in den Konfi-Unterricht einbringen
- Zusammenarbeit mit queeren Zentren und Verbänden
- Broschüren über queeres Leben
- Ein Plakat vor der Kirche oder besser noch ein Glasfenster, das zeigt, dass alle Menschen willkommen sind
Sammelband mit Berichten von bisexuellen Christen in Europa
José wünscht sich außerdem einen Blog oder eine Zeitung, in der queere Christinnen und Christen Gastbeiträge zu Themen aus queere Perspektive schreiben können. Er selbst arbeitet gerade an einem Sammelband mit Berichten von bisexuellen Christinnen und Christen in Europa. Und es gebe noch einige andere Projekte, kündigt José an. “Es kann nicht mehr sein, dass Hetero-Menschen entscheiden, wer worüber, wann und mit wem sprechen oder schreiben darf.”
Hinweis: Wer Interesse an einem Beitrag für den Sammelband hat, kann sich unter www.bisexualchristianstories.my.canva.site informieren.