Bischof Wilmer begegnet der ermordeten Jüdin Etty Hillesum

Selbst in Auschwitz blieb ihr Glaube an das Gute unerschütterlich: Der Hildesheimer Bischof Heiner Wilmer hat sich intensiv mit den Tagebüchern von Etty Hillesum auseinandergesetzt. Sein Buch regt zum Nachdenken an.

“Gott, lass mich keine Kraft, kein bisschen Kraft an Hass verlieren, an sinnlosen Hass gegen diese Soldaten. Ich werde meine Kraft für andere Dinge aufsparen.” So betete die junge Jüdin Etty Hillesum, als sie 1942 erstmals einem deutschen Soldaten begegnete. Einer von vielen außergewöhnlichen Gedanken, die die Niederländerin, die später in Auschwitz ermordet wurde, in ihr Tagebuch schrieb. Dabei nahm sie immer wieder auf ihren Glauben und ihre Bibellektüre Bezug. Grund genug für den katholischen Hildesheimer Bischof Heiner Wilmer, sich mit Hillesums Tagebüchern näher auseinandersetzen.

Schon 2021 – während der Corona-Pandemie – zog er sich acht Tage zu Exerzitien zurück. Er vertiefte sich in Hillesums Aufzeichnungen und schrieb seine Gedanken nieder. Herausgekommen ist ein fiktiver Dialog mit Hillesum, in dem Wilmer über den Glauben an das Gute, das Beten und das Verhältnis des Menschen zu Gott nachdenkt. Unter dem Titel “Herzschlag” erschien er am Montag als Buch im Herder-Verlag.

Geboren 1914 in Middelburg, wuchs Hillesum in einer jüdischen Familie auf, wurde jedoch wenig religiös erzogen. Ab 1932 studierte sie zunächst Jura, später Slawistik und Psychologie. Kurz nach dem Überfall der deutschen Wehrmacht auf die Niederlande begegnete sie dem Psychoanalytiker Julius Spier, mit dem sich eine Freundschaft und später eine Liebesbeziehung entwickelte. Spier – in ihren Tagebüchern als “S.” benannt – war es wohl auch, der ihr riet, ein Tagebuch zu führen. Es reicht vom März 1941 bis zum Abtransport nach Auschwitz im Oktober 1943, wo sie wenig später im Alter von 29 Jahren ermordet wurde. Ihre Tagebücher hatte die junge Frau zuvor einer Freundin übergeben.

Wilmer wurde 2018 auf Hillesum aufmerksam. Damals lebte er in Rom und spazierte durch einen der größten Parks der Stadt. Dort entdeckte er auf einem Gedenkstein den Namen Etty Hillesum. “Das war mein erstes Treffen mit dir, wenn ich das so sagen darf. Seither lässt du, lässt deine Geschichte mich nicht mehr los”, so der Bischof in seinem Buch.

Er zeigt sich beeindruckt davon, dass Hillesum bis zuletzt an das Gute glaubte – obwohl sie wusste, was ihr in den Lagern der Nazis bevorstand. “Und wenn es in der nationalsozialistischen Barbarei nur einen gerechten Deutschen gäbe? Das zu denken, ist deine Stärke. Das imponiert mir”, schreibt Wilmer und kommt zu dem Schluss: “Abgrundtiefer Hass richtet sich am Ende immer gegen uns selbst. Wenn unser Hass den anderen zerstört, zerstört er uns selbst.”

Nachdenklich stimmt den Bischof die Beziehung Hillesums zu ihren Eltern. “Das Verhältnis zu deinen Eltern und deinen Brüdern ist schwierig, sie gehen dir mit ihrer Kompliziertheit auf den Geist, nerven dich, treiben dich zur Weißglut, und gleichzeitig bist du ihnen dankbar, weißt, was sie dir gegeben haben.” Er beschreibt, wie Hillesum einerseits ihren Eltern verzeihen will, und wie schwer sie sich andererseits damit tut.

Wilmer fragt Hillesum auch, wie sie betet. Immer wieder versuche sie, ihre Umwelt und die Natur bewusst wahrzunehmen. “Deinen Notizen entnehme ich, dass du in solchen Momenten im Bewusstsein lebst, dass noch jemand da ist.”

“Was mich fasziniert ist, dass Etty zunehmend religiöser wird, ohne einen Kontakt zu haben zu einer Institution, die religiös ist”, sagte Wilmer am Montag in einem Interview des “Deutschlandfunks”. Sie besuche keine Synagoge und keine Kirche. Ihr spiritueller Aufbruch erkläre sich allein durch den Kontakt zu Julius Spier und durchs Lesen.

Auf die Frage, wohin sich Hillesum entwickelt hätte, wenn sie nicht ermordet worden wäre, antwortete Wilmer: “Ich glaube, Etty wäre eine ganz ganz große Autorin geworden. Sie wollte Chronistin ihrer Zeit sein. Sie wollte alles aufschreiben, um später davon zu erzählen.” Etty sei die große, erwachsene Anne Frank.

“Aus meiner Sicht sollte das Tagebuch von Etty Hillesum Pflichtlektüre in den deutschen Schulen sein”, so Wilmer weiter. Sie habe eine große Liebe zu Russland und zu Israel. Sie sei eine große Beobachterin Europas und der Welt und eine Kämpferin für Menschenfreundlichkeit.

Der Präsident des Landesverbands der Jüdischen Gemeinden in Niedersachsen, Michael Fürst, wendet in seinem Vorwort zum Buch ein, Wilmer zeichne ein einseitiges Bild von Hillesum. Der Bischof setze sich vor allem mit ihrer Spiritualität und ihren Gedanken zu Versöhnung und Hass auseinander. Fürst fragt: “Darf er das? Darf ein katholischer deutscher Bischof ein Zwiegespräch mit einer von den Nazis in Auschwitz ermordeten jungen Jüdin führen?”

Zwischen den Zeilen lässt sich erkennen, dass Fürst diese Fragen bejaht: Letztlich lese jeder ein solches Tagebuch aus seinem jeweils individuellen Blickwinkel. Das Buch sei daher für ihn eine Einladung, selbst zu Hillesums Tagebuch zu greifen und es aus seiner Perspektive zu studieren.