Bewusster Verzicht oder Festhalten?
Verweis auf die Eigenverantwortung in evangelischer Tradition: Gedanken zu Gottesdiensten in der Pandemie
Von Hanfried Zimmermann
Heiligabend 2020 ohne einen Gottesdienst in einer Kirche: Das war schon ein eigenartiges Gefühl. Von Kindheit an habe ich sie mitgestaltet oder später selbst verantwortet. Da fehlte schon viel in diesem Jahr, gewiss nicht nur mir.
„Leider kann unser Gottesdienst angesichts der hohen Infektionszahlen nicht wie geplant stattfinden. Achtsamkeit und Nächstenliebe gebieten es in diesem Jahr darauf zu verzichten.“ So oder ähnlich war es kurz vor Weihnachten auf vielen Veröffentlichungen von Kirchengemeinden zu lesen. Ich ahne, wie schwer es für viele war, sich zu dieser Entscheidung durchzuringen. Aber es war aus meiner Sicht die richtige, ja die einzig mögliche Entscheidung. Ich will Gemeinden, die sich anders entschieden haben, ein verantwortungsvolles Abwägen nicht absprechen. Dennoch kann ich das Festhalten am Präsenzgottesdienst nur schwer nachvollziehen. Wie bringen wir diese Entscheidung und die so dringende an uns gerichtete Aufforderung in Einklang auf alle nicht unbedingt notwendigen Kontakte zu verzichten?
Wenn in diesem Zusammenhang dann noch auf unsere so guten Hygienekonzepte verwiesen wird, macht mich das ärgerlich. Denken wir wirklich, dass unsere Konzepte besser, sicherer sind als zum Beispiel die der Kulturschaffenden oder vieler anderer gesellschaftlicher Akteure? Alle haben über Wochen kreativ an ihren Hygienekonzepten gearbeitet, sind dabei zum Teil auf großartige Einfälle gekommen und müssen nun doch schmerzlich auf Präsenzveranstaltungen verzichten. Nicht wenige geraten dadurch in wirtschaftliche Schwierigkeiten. Ich frage mich: Wie wird der Hinweis auf unsere Konzepte auf sie wirken?
Verantwortlich handeln durch bewussten Verzicht
Heiligabend und die Weihnachtsfeiertage sind nun vorbei. Aber die Frage nach Präsenzgottesdiensten mitten im Lockdown bleibt für mich weiterhin aktuell, auch wenn es hier um viel weniger Gottesdienstbesucher*innen geht. Im Frühjahr hatten sich die Verantwortlichen in Politik und Kirche gemeinsam auf den Verzicht verständigt und die Gemeinden haben dies umgesetzt. Jetzt heißt es plötzlich, „in guter evangelischer Tradition“ sollten sie dies eigenverantwortlich entscheiden. Ist das wirklich ein sinnvoller Weg? Von den Bundesländern wünschen wir uns mit Recht oft mehr einheitliches Handeln, wenngleich auch hier das Infektionsgeschehen und die örtlichen Gegebenheiten sehr unterschiedlich sind. Ich kann verstehen, dass es schwer ist, auf EKD und landeskirchlicher Ebene hier Entscheidungen zu treffen. Aber auch das gehört nun einmal zu einem Leitungsamt. Verantwortliches und solidarisches Handeln hieße für mich, dass auch wir ganz bewusst während des Lockdowns auf unsere Gottesdienste verzichten, so schmerzlich das auch ist. Es wäre ein wichtiges Zeichen hinein in unsere Gesellschaft und eine ganz klare Unterstützung aller Bemühungen, das Infektionsgeschehen zu bannen.
Welch Kreativität aus einem bewussten Verzicht wachsen kann, haben wir im Frühjahr erlebt und jetzt wieder an Heiligabend. Auf großartige Ideen sind Gemeinden da gekommen, haben alternative Möglichkeiten der Verkündigung entdeckt. So einfallsreich, so schön waren viele Online-Gottesdienste gestaltet. Da gab es Telefongottesdienste, Krippenspiele für die Familie und Anleitungen zu Hausgottesdiensten, Predigten to go, offene Kirchen während der Weihnachtstage und vieles mehr. Nein, das alles kann nicht die Gemeinschaft im Gottesdienst ersetzen, aber ist eben auch mehr als nur eine Notlösung. Zugleich sehe ich darin ein Stück „Zukunftswerkstatt“ für eine Kirche mit immer weniger personellen Ressourcen und mit der Herausforderung unsere gute Botschaft zu Menschen zu tragen, die unsere traditionellen Formen nicht mehr ansprechen. Ist das nicht auch eine tolle Chance mitten in der Krise?