Bernhard Schlink: „Ich habe keine Vorstellung vom Himmel“

Seit diesem Mittwoch ist Bernhard Schlinks neuer Roman „Das späte Leben“ im Handel. Diesmal greift der emeritierte Juraprofessor und Verfassungsrechtler (79) nicht politisch brisante Themen wie Rechtsextremismus auf, sondern wendet sich ins Innere. Denn „alles im Leben ist Stoff fürs Schreiben“, wie der Bestsellerautor im Interview der Katholischen Nachrichten-Agentur (KNA) betont.

KNA: Herr Professor Schlink, während Krieg und Hass die Schlagzeilen beherrschen, ist „Das späte Leben“ eine sehr persönliche Geschichte um das Thema Tod. Provokant gefragt: Warum haben Sie nicht erneut die Gelegenheit genutzt, Stellung zu beziehen – wenngleich indirekt als Romanautor?

Schlink: Finden Sie, dass Schriftsteller zu den Themen, die die Schlagzeilen beherrschen, Stellung nehmen müssen? Es braucht keine Stellungnahmen von Schriftstellern, um die Furchtbarkeit der Kriege, die gegenwärtig geführt werden, und die Abscheulichkeit des Hasses, der gegenwärtig aufbricht, ins Bewusstsein zu bringen. Schriftsteller haben auch keine besondere Kompetenz, über kriegerische, politische und gesellschaftliche Konflikte zu urteilen – das können und tun alle Bürger und Bürgerinnen. Wenn Schriftsteller eine besondere Kompetenz haben, dann die zu schreiben, und alles im Leben ist Stoff fürs Schreiben.

KNA: Protagonist Martin befasst sich nach der Krebsdiagnose auch mit dem Glauben: Gott nennt er lieblos, weil er die Welt erschaffen habe, sich aber nicht um sie kümmere. Ist also Gott schuld am Zustand der Welt?

Schlink: Man kann an einen allmächtigen Gott glauben, der den Gang der Welt den Entscheidungen und Handlungen der Menschen überlässt. Aber man kann nicht an die Allmacht Gottes und daran glauben, dass er in den Gang der Welt gar nicht mehr eingreifen kann. Wenn er eingreifen könnte und nicht eingreift, trägt er die Verantwortung für die Welt.

KNA: Seinem kleinen Sohn David sagt der Vater, er werde ihn dann irgendwann im Himmel begrüßen. Was ist Ihre Vorstellung vom „Himmel“?

Schlink: Ich habe keine Vorstellung von einem Himmel und keine Erwartung an einen Himmel. Der Vater will die kindliche Hoffnung seines Sohns, wer sterbe, gehe, komme aber wieder, nicht zerstören – sei das pädagogisch richtig oder falsch.

KNA: Martin kommt wie Sie aus einem frommen Elternhaus. Sie selbst betonen immer wieder, wie wichtig starke Institutionen wie Gewerkschaften, Parteien und auch Kirchen sind. Diese verlieren aber gerade massiv Mitglieder und damit auch gesellschaftliche Relevanz. Frage an den Pfarrerssohn: Bedauern Sie diese Entwicklung?

Schlink: Wie Sie sagen – ich finde starke Institutionen wichtig für unser Gemeinwesen und bedaure, dass junge Menschen zwar moralischen Eifer an mancherlei Gutes wenden, sich aber kaum in und für Institutionen engagieren.

KNA: Aber was können die Kirchen tun, um für die Menschen wieder attraktiv zu sein?

Schlink: Das geht vom Kontakt zu den Mitgliedern bis zu den Inhalten der Gottesdienste. Jede politische Partei, jede Gewerkschaft, jeder Fitness Club hält über das Internet Kontakt zu seinen Mitgliedern und informiert sie über seine Ereignisse, Aktivitäten und Veranstaltungen. Warum tun die Kirchen das nicht? In den Gottesdiensten rufen Liturgie, Gebete und Lieder nach wie vor Gott, Jesus und den Heiligen Geist an, wirken aber seltsam leer, weil die Predigten meistens von den Dingen der Welt handeln und allenfalls therapeutische Ratschläge geben. So werden Gottesdienste belanglos.

KNA: Martin kritisiert die „Autorität, die sich die Kirche bei Verlautbarungen zu Gesellschaft und Politik“ anmaße und die „Anbiederung an andere religiöse Traditionen, mit der die Kirche die Schönheit der eigenen“ verrate. Inwieweit stimmen Sie Ihrer Hauptfigur zu?

Schlink: Ich bin nicht Martin Brehm, und er spricht nicht für mich. Vielleicht erreicht, was er denkt, die Leser und Leserinnen und lässt sie über Zustimmung und Ablehnung nachdenken.

KNA: Bei dem kontroversen Thema Sterbehilfe – für Martin Brehm keine Option – haben Sie die Kirchen in der „Herder Korrespondenz“ aufgerufen, zwischen gesellschaftspolitischen Stellungnahmen und seelsorglicher Begleitung von Sterbewilligen zu unterscheiden. Welche Regelung würden Sie als Rechtsexperte bei diesem Thema favorisieren?

Schlink: Das Bundesverfassungsgericht hat für die Regelung klare Vorgaben gemacht. Durch ärztliche und, wenn nötig, psychiatrische Beratung ist sicherzustellen, dass der Sterbewillige sich frei, nicht unter Einfluss einer psychischen Störung, nicht unter Druck seines Umfelds, in Kenntnis von Alternativen und in Kenntnis des Ablaufs für den Suizid entscheidet. Das sicherzustellen, bedarf es keiner Gremien und Bürokratien; Protokollierungspflichten genügen.

KNA: Was meinen Sie konkret damit? Sind Sie demnach gegen ein Beratungssystem und Beratungsfristen?Schlink: Es bedarf zweier Beratungen, einer ersten durch den Arzt des Vertrauens und einer zweiten durch einen Psychiater, einen Psychotherapeuten, einen Geistlichen oder wessen zusätzliche Qualifikation der Arzt des Vertrauens sonst für sinnvoll hält. Es bedarf auch einer Frist zwischen der zweiten Beratung und der Abgabe des Medikaments, damit der Sterbewillige sich der Ernsthaftigkeit seines Sterbewunschs versichert. Diese Schritte zu protokollieren und die Protokolle bei der Ärztekammer zu hinterlegen bietet hinreichende Sicherheit gegen missbräuchliche Medikamentenabgabe. Es bedarf keines bürokratischen Systems mit Gremien und Instanzen und schriftlichen Eingaben.

KNA: 2021 haben Sie die Tübinger „Weltethos-Rede“ gehalten, in Erinnerung an den Theologen und Ökumeniker Hans Küng. Wie sehen Sie heute das Verhältnis zwischen den einst „großen“ christlichen Kirchen?

Schlink: Wenn die Kirchen die zunehmende Entkirchlichung und Entchristlichung nicht hinnehmen wollen, müssen sie eine größere Nähe zueinander finden. Aber um sich der Nähe zur evangelischen Kirche zu öffnen, müsste sich die katholische Kirche in ihrem Inneren öffnen, und das kann sie nicht.

KNA: In Ihrer Tübinger Rede haben Sie auch dazu aufgerufen, gemeinsam gegen die Klimakatastrophe vorzugehen. Derzeit schieben sich Krieg und Terror vor dieses Thema. Wie optimistisch sind Sie gerade beim Blick auf unsere Welt?

Schlink: Ich bleibe Optimist, indem ich nach wie vor wichtig finde, sich in der Welt und für sie einzusetzen, wo und wie auch immer. Aber ob die Schwächung der Demokratie und das Erstarken der Sehnsucht nach dem Autoritären, die Unversöhnlichkeit in der Gesellschaft, der Hass und die Kriege, die Zerstörung von Klima und Natur aufgehalten werden können, weiß ich nicht.

KNA: Martin Luther soll gesagt haben, selbst wenn morgen die Welt untergehe, würde er noch einen Apfelbaum pflanzen. Martin im Roman pflanzt keinen Baum, sondern legt einen Komposthaufen an, den sein Sohn später pflegen soll. Welche Symbolik steckt in diesem Motiv?

Schlink: Das Buch handelt vom Lieben, Loslassen, Hinterlassen. Martin will seinem Sohn etwas hinterlassen, und einer seiner Einfälle ist der Komposthaufen. Aber er muss lernen, dass es nicht seine Sache ist, was den anderen von ihm bleibt, sondern die Sache der anderen. Sie entscheiden, ob sie das Seine annehmen oder ablehnen, etwas daraus machen oder nicht machen wollen.