Berliner Filmfestival „achtung berlin“

Eine ökumenische Jury tauchte eine Woche lang in Geschichten von Identität und Zugehörigkeit ein

350 ausgestopfte Vögel, 3000 Schmetterlinge, aufgespießt in Kästen, Raupen, Pilze, Käfer: Regisseurin Sönje Storm erkundet in ihrem Film den Nachlass des exzentrischen Bauern und Fotografen Jürgen Friedrich Mahrt (1882–1940), der ihr Urgroßvater war.
350 ausgestopfte Vögel, 3000 Schmetterlinge, aufgespießt in Kästen, Raupen, Pilze, Käfer: Regisseurin Sönje Storm erkundet in ihrem Film den Nachlass des exzentrischen Bauern und Fotografen Jürgen Friedrich Mahrt (1882–1940), der ihr Urgroßvater war.Stormfilm

Beim „achtung berlin“-Festival vom 12. bis 19. April präsentierte sich das junge deutsche Kino aus der Region. Unter 78 Filmen hatte eine Ökumenische Jury sechs Dokumentar- und vier Spielfilme zu sichten, um den vom Erzbistum Berlin und der EKBO gestifteten Preis in Höhe von 1000 Euro zu vergeben.

Viele Filme, die die Jury auf der 19. Ausgabe des siebentägigen Filmfestivals angesehen hat, beschäf­tigen sich mit Identität und Zugehörigkeit. „Independence“ (Regie: Felix Meyer-Christian) und „The Homes We Carry“ (Regie: Brenda Akele Jorde) geben Einblick in das Leben zweier junger Frauen mit mosambikanischen Vätern, die als Vertragsarbeiter aus dem damaligen sozialistischen Bruderland in die DDR kamen. Nach dem Mauerfall wurden sie ausgewiesen. Ihre Töchter mussten ohne sie aufwachsen. „The Homes we carry“, befand die Ökumenische Jury in einer lobenden Erwähnung, rückt einen wenig bekannten Aspekt der deutsch-deutsch-mosambikanischen Geschichte ins Bewusstsein.

Von Flucht und Plattenbauten

Auch „Hao are you“ begibt sich auf Spurensuche. Regisseur Dieu Hao Do stammt aus einer Familie, die der chinesischen Minderheit in Vietnam angehört – und, nach der Flucht aus dem kommunis­tischen Vietnam, zersplittert und zerstritten über drei Erdteile verstreut lebt. Versöhnung scheint nicht möglich.

In „153 Meter“ lässt Anton von Heiseler die Grenze zum Dokumentarischen verschwimmen. Gefilmt wird in zwei gegenüberliegenden Plattenbauten. Eine mittelalte, einsam wirkende Tochter, Hauswartin von Beruf, pflegt ihre unfreund­liche, halbseitig gelähmte Mutter – und stalkt eine Nachbarin.

Fremde Erzählung des eigenen Landes

Eine weitere Familienangelegenheit liegt Max Gleschinskis „Alaska“ zugrunde, angesiedelt in der wunderschön ausgeleuchteten Landschaft der Mecklenburgischen Seenplatte.

Jonas Ludwig Walters „Tamara“ erkundet in Potsdam-Mittelmark biografische Brüche zwischen DDR und BRD, zwischen Eltern und Nachwendegeneration. Die Geschichte der Bundesrepublik sei für ihn „nicht die meiner Familie“, sondern „eine fremde Erzählung, aber gleichzeitig die meines Landes“, erklärt der Autor.

Hintergründig und grenzüberschreitend

Der Dokumentarfilm „Berlin Bytch Love“ von Heiko Aufdermauer und Johannes Girke begleitet ein minderjähriges obdachloses Paar bei der Familiengründung auf dem Weg in die eigene Wohnung von Berlin nach Eberswalde. In Daniel Polats experimentellem Drama „Stumm vor Schreck“ improvisieren Annette Frier als trauernde Religionslehrerin und Peter Trabner als deren Mann kammerspielartig in einem Landhaus-Kammerspiel eine Groteske. Polat spielt selbst einen Berliner, der sich als geflüchteter afghanischer Einbrecher ausgibt. Während der Dreharbeiten bricht er sich tatsächlich (!) das Schienbein – und integriert die Schmerzen in seine Rolle: ein hintergründiger, grenzüberschreitender Spaß mit launigen Bibelzitaten.

„The Devil’s Drivers“, gedreht über einen Zeitraum von acht Jahren, hebt sich mit schnellen Schnitten und rasanten Fahrten von den anderen Filmen ab. Gezeigt wird das raue Leben südlich von Hebron. Israelische Siedlungen haben die Beduinen von den Wasserquellen abgeschnitten. Um Geld zu verdienen, schafft Hamouda illegal Arbeiter über die Grenze von Palästina nach Israel. Daniel Carsenty und Mohamed Abugeth zeigen, wie die Männer mit einer beeindruckenden, nicht zuletzt durch den muslimischen Glauben grundierten Gelassenheit ihr Schicksal auf sich nehmen: spannend.

Seiner Zeit voraus

Preiswürdig fand die ökumenische Jury „Die toten Vögel sind oben“ von Sönje Storm. Dessen Protagonist Jürgen Friedrich Mahrt (1882–1940), Urgroßvater der Regisseurin, dokumentierte mit großer Akribie und Geduld nicht nur das Leben, sondern auch das Artensterben in der schleswig-holsteinischen Moorlandschaft.

Damit war Mahrt seiner Zeit weit voraus. Unmengen seiner Fotografien, Schmetterlinge, ausgestopfte Vögel fanden sich als Nachlass auf dem Dachboden. Mahrt war zwar Bauer, aber vor allem Naturforscher und auch, seine Schwarz-Weiß-Fotografien aufwändig nachkolorierend, ein Künstler: kein Konservativer, sondern ein Konservator, der spüren lässt, wie die Vergangenheit mit der Zukunft verbunden ist – und die Bewahrung der Schöpfung mit der Achtung der Kreatur.

Mit anderen Augen und Ohren

Leider unterlässt es die Regisseurin, etwaige Verbindungslinien zur NS-Rassenlehre und so genannten Eugenik zu erkunden, die bei dem Thema nahelägen. Mahrt hätte dem Hitler-Regime distanziert gegenübergestanden, heißt es nur vage.

Trotz dieser Leerstelle einigte sich die Jury nach einiger Diskussion, diesen Film auszuzeichnen. Zum großen Teil wird dessen Qualität und Zugänglichkeit durch die einfühlsame Musik von Dominik Eulberg, Bertram Denzel und Henry Reyels möglich. So gelingt etwas Seltenes: Man sieht und hört die Welt danach mit anderen Augen und Ohren.

Katharina Körting war Mitglied der Ökumenischen Jury. Mehr zum Festival unter: www.achtungberlin.de