Beerdigungen im Judentum: Ein Liebeswerk

Als Tat der Gerechtigkeit bezeichnet die jüdische Tradition die Beerdigung. Die biblischen Wurzeln erklärt die Theologin Luise Metzler, die zur Bestattungskultur im Alten Testament geforscht hat.

Die Totenruhe ist nach jüdischer Vorstellung unantastbar. Gräber – hier in Jerusalem – dürfen daher nicht eingeebnet werden, sondern sollen ewig bestehen
Die Totenruhe ist nach jüdischer Vorstellung unantastbar. Gräber – hier in Jerusalem – dürfen daher nicht eingeebnet werden, sondern sollen ewig bestehendennis

„Gekreuzigt, gestorben und begraben … und auferstanden von den Toten.“ – so beten wir im Glaubensbekenntnis. Warum gehört „begraben“ in diese konzentrierte Aufzählung dessen, was uns seit der Alten Kirche wichtig ist? Warum betonen alle Evangelien, dass Jesus begraben wurde?

Antwort gibt die jüdische Tradition. Sie basiert auf dem Alten Testament und ist für jüdische Menschen – und damit auch für Jesus und seine Anhängerinnen und Anhänger – selbstverständliche Richtschnur ihres Lebens. Nach ihr gehört Bestattung als tätige Liebe zu den Taten der Gerechtigkeit, wie auch Kranke besuchen, Fremde aufnehmen, Trauernde trösten. Für die jüdische Tradition sind sie eine der drei Säulen, auf denen die Welt ruht. Sie wiegen laut einer talmudischen Aussage „alle Gebote der Tora auf, nur dass Wohltätigkeit an Lebenden geschieht, das Liebeswerk an Lebenden und Toten“.

Selbst Verbrecher sollen bestattet werden

Zentral ist die Toraanweisung in 5. Mose 21,22f.: „Wenn bei einem Menschen eine Sünde geschieht, auf die das Todesurteil steht, … und du hängst ihn an ein Holz, dann darf die Leiche nicht über Nacht an dem Holz bleiben. Du sollst sie unbedingt noch am selben Tag begraben. Denn Aufgehängte sind eine Entwürdigung der Gottheit.“ Begründet wird es mit höchster Autorität: Mit der Würde Gottes. Es nimmt Gott Würde und Gewicht, wenn die Körper toter Menschen durch Tiere geschändet werden.

Das bezieht sich auf die Gottesebenbildlichkeit aller Menschen. Selbst Verbrecherinnen und Verbrecher haben Anspruch auf diesen Schutz, denn sie repräsentieren bis in ihre Körperlichkeit hinein Gott selbst. „Die Menschenwürde muss im Verbrecher respektiert werden. Das Judentum lehrt, dass der Tod seine Sünde sühnt, und darum soll sein Körper so früh wie möglich dieselbe ehrenvolle Bestattung erfahren wie der jedes anderen Toten“, schreibt der Oberrabbiner Joseph H. Hertz dazu. Diese Vorschrift wird im Talmud auf jeden Menschen ausgeweitet: Wenn es für Kriminelle gilt, um wie viel mehr dann für andere.

Vorbilder in der hebräischen Bibel

Abraham gilt als vorbildlicher Mensch, weil er dieses Liebeswerk getan hat, indem er Sara begrub. Die hebräische Bibel enthält viele Beispiele für solches Verhalten, etwa im Buch Tobit. Tobit gerät in Lebensgefahr, weil er trotz des Verbots des Königs Sanherib Tote beerdigt, die „hinter die Mauer Ninives geworfen wurden“ (Tob 1,17).

Unter Berufung auf 5. Mose 34,6 gilt sogar Gott selbst als Beispiel für die Liebespflicht, Tote zu bestatten: „Gott hat Tote begraben, wie es heißt: ‚Gott begrub (Mose) im Tal.‘ So begrabe du auch Tote!“, heißt es im Talmud.

Lebensgefährlicher Einsatz für Tote

Von Rizpa, einer Nebenfrau Sauls, wird ein lebensgefährlicher Einsatz berichtet (2. Samuel 21): Um eine Hungersnot zu beenden, lässt David sieben Nachkommen Sauls hinrichten, ohne sie zu bestatten. Rizpa wacht über den Leichnamen und lehrt David so, gemäß der Tora zu handeln. David lässt nicht nur die Getöteten bestatten. Auch die Leichname von Saul und dessen drei Söhnen, die in Beth Shean provisorisch begraben worden waren, überführt er in deren Familiengrabstätte. Grundlage ist das Verhalten Rizpas, die David dadurch zur Toralehrerin wird.

Die Bibel erzählt sogar, dass die Schöpfungsordnung sich umkehrt, damit ein Mensch begraben wird (1. Könige 13). Ein Mann Gottes wird unterwegs von einem Löwen getötet. Danach geschieht Erstaunliches: Der Löwe frisst weder den Toten noch dessen Esel: „Seine Leiche lag ausgestreckt auf dem Weg. Der Esel stand neben ihm, und der Löwe stand neben der Leiche“.

Jüdische Menschen wegen Bestattungsfürsorge in Verruf

Im Land Gottes soll es keine Menschen geben, deren Leichen von Tieren gefressen werden. Dafür lässt die Bibel Löwe und Esel einstehen. Sie kehren zurück in den Zustand nach der Schöpfung der Welt, als alles gut war, und behüten einträchtig die Leiche, bis endlich ein Mensch kommt, um sie zu bergen, Totenklage über sie zu halten und sie im eigenen Familiengrab zu begraben. Dieses Grab wird später zu einem Ort der Hoffnung, dass Israel trotz der Verlusterfahrung durch das Exil von Gott einen Ort der Ruhe im Land erhalten wird.

Haben diese biblischen Erzählungen Anhalt an der Realität? Oder sind es nur Geschichten? Während im Römischen Reich besonders arme Menschen oft unbestattet blieben, waren jüdische Menschen ebenso wie Angehörige der messianischen Gemeinschaften geradezu dafür verrufen, dass sie sich um Tote kümmerten. Sie bestatteten sogar vom Meer angespülte Leichname. Mehrere antike Schriftsteller bestätigen diese Praxis. Als Begründung schreibt Lactantius: „Wir werden es nicht dulden, dass das Bild und Geschöpf Gottes den wilden Tieren und Vögeln als Beute hingeworfen wird, … und auch an einem unbekannten Menschen das Amt seiner Verwandten erfüllen, an deren Stelle, wenn sie fehlen, die Humanität tritt.“

Luise Metzler ist Theologin und hat u.a. an der Bibel in gerechter Sprache mitgewirkt.