Autorin über Chancen und Grenzen von Protest

Bedrohte Eisbären und steigende Meeresspiegel – das waren lange typische Themen der Umweltbewegung. In den vergangenen Jahren haben sich die Motive stark verändert, und vielen Menschen ist klargeworden: Das Thema ist nicht so weit weg, wie es lange schien. Über Protestformen und ihre Konsequenzen hat die Publizistin Yasmine M’Barek jetzt einen Essay veröffentlicht. Im Interview der Katholischen Nachrichten-Agentur (KNA) spricht sie über zivilen Ungehorsam, Corona-Demos und die Frage, wo jede und jeder Einzelne anfangen kann.

KNA: Frau M’Barek, wie wirksam kann Protest sein?

M’Barek: Das hängt immer davon ab, wie und warum man protestiert. Protest kann total erfolgreich sein, wenn er Themen aufgreift, die die Mehrheitsgesellschaft beschäftigen – auch wenn man vielleicht gar nicht erwartet hat, dass andere Leute auch so denken. Auf einmal zeigt sich dann eine politische Kraft.

Ein Beispiel dafür ist „Fridays for Future“: Die Großdemonstrationen haben gezeigt, dass sich große Teile der Gesellschaft davon abgeholt fühlen – und auch das Gefühl haben, dass es etwas bringen könnte, wenn sie protestieren. Das ist immer eine entscheidende Frage. Protest ist nur dann erfolgreich, wenn er so viele Menschen mobilisiert, dass es um mehr als einen Feel-Good-Moment geht.

KNA: Sie beschreiben, dass Protest oft von Betroffenen eines bestimmten Missstandes komme. Ist bei ihnen schlicht der Leidensdruck am größten?

M’Barek: Vor allem ist Protest das Mittel von Minderheiten: von Menschen, die sich in einer Debatte nicht vertreten fühlen. Sie suchen nach demokratischen Wegen, um auf sich aufmerksam zu machen. Marginalisierte Menschen, etwa religiöse oder ethnische Minderheiten, nutzen Protest, um auf sich aufmerksam zu machen. Es kann auch um soziale Themen gehen, wenn zum Beispiel Pflegekräfte auf die Straße gehen. Dieses Beispiel zeigt aber auch, dass Protest nicht sofort das System verändert – obwohl es in diesem Fall um etwas geht, das die Mehrheitsgesellschaft anstrebt, weil sich das Pflegesystem auf uns alle auswirkt.

KNA: Ist die Klimabewegung ein Sonderfall?

M’Barek: Ja, allein schon deshalb, weil die Zeit so drängt. Deswegen werden auch die Mittel des Protests aggressiver. Die Klimakrise wird eines Tages so drastische Auswirkungen haben, dass es zu spät sein wird. Es handelt sich also um ein akutes Problem, das eines nicht allzu fernen Tages nicht mehr lösbar sein könnte.

KNA: Zugleich scheint die Gesellschaft im Hinblick auf zivilen Ungehorsam kritischer zu werden. Muss man unbequeme Protestformen aushalten?

M’Barek: Man muss sie aushalten, Protest ist immer eine Störung der Gesellschaft. Auf der anderen Seite können die Aktivisten aus den Reaktionen lernen: Wie mobilisiere ich Menschen, wenn ich offensichtlich in der Minderheit bin, wenn die Gesellschaft mit Verachtung reagiert? Das ist auf Dauer kontraproduktiv. Debattiert wird darüber, ob die Klimaproteste extremistisch sind, ob Aktivistinnen und Aktivisten in Polizeigewahrsam gehören oder ob ihre Aktionen verboten werden sollten – und nicht über das Thema, auf das sie eigentlich hinweisen wollen.

KNA: Aber ohne ein gewisses Maß an Unbequemlichkeit fällt man vielleicht zu wenig auf …

M’Barek: Das stimmt. Die Frage ist, wie lange Aktivismus, der vor allem stört und Bilder produziert, sinnvoll ist. Vertreter von „Fridays for Future“ sitzen inzwischen in Gremien, sprechen mit Ministern, kommen in den Medien zu Wort. Die Frage lautet also: Was ist der nächste Schritt, nachdem ich allen gezeigt habe: „hi, ich existiere, und ich habe ein wichtiges Thema“?

KNA: Viele mahnen positive Zukunftsvisionen an …

M’Barek: Ich will nicht die Beraterin spielen, aber das ist letztlich der springende Punkt der Demokratie. Wenn die nächsten Bundestagswahlen wieder keine Mehrheit für Parteien ergeben, die radikale Klimapolitik machen wollen, dann muss man demokratische Wege finden, um für die eigenen Anliegen zu werben. Der Schritt in die Realpolitik ist zäh und klingt öde. Aber: Pöbeln können wir alle. Man kommt nicht umhin, aufeinander zuzugehen. Aktivismus wird wahrscheinlich nicht dazu führen, dass das System zerschlagen wird – dann hätten wir ja keine Demokratie mehr, sondern Jeder gegen jeden.

KNA: Im Privaten fällt es uns schwer, auf das Auto zu verzichten – und manche Aktivisten scheuen die parlamentarischen Mühlen. Ist also die Bequemlichkeit der Hemmschuh?

M’Barek: Einerseits ja. Andererseits bringt mein Papp-Strohhalm nicht so viel, wie es bringen würde, die Industrie von der Abkehr vom Plastik zu überzeugen. Es geht also auch um Relationen. Viele Menschen sind bereit, etwas beizutragen – aber frustriert, wenn sie merken, dass sich die Politik trotzdem nicht verändert. Das ist ermüdend, und daher bin ich kein Fan davon, alle Verantwortung auf das Individuum abzuwälzen. Zudem leben viele Menschen an der Existenzgrenze und denken vielleicht über die kommenden drei Jahre nach, nicht darüber, ob in 30 Jahren die Häuser überflutet werden, die sie sich heute schon nicht leisten können.

KNA: Ist der schnelle Like auf Instagram bereits Protest? Oder beruhigt man damit nur das eigene Gewissen?

M’Barek: Beides. Ein Like auf Instagram oder ein Sticker auf dem Rucksack ist eine kleine, politische Handlung, sozusagen das Mindestmaß an Protest, das man leisten kann. Allerdings bleibt es dabei häufig bei Selbstbeweihräucherung in einer gleichbleibenden Blase. Gerade auf Instagram folgen sich Politiker, Aktivisten und Influencer gegenseitig, die ohnehin ähnlicher Meinung sind.

KNA: In Ihrem Essay geht es auch um die Corona-Proteste. Haben sie gezeigt, dass Radikalität erschreckend erfolgreich sein kann?

M’Barek: Die Corona-Proteste waren insofern interessant, als sie viel über Deutungshoheit aussagen. Wenn Nazis auf die Straße gehen und mit ihnen Menschen, die eigentlich keine Nazis sind, dann ist das gefährlich für die Demokratie. Entscheidend ist nicht, wie viele Menschen sich beteiligen. Wenn so etwas möglich ist, können wir diesem Momentum nicht entfliehen.

KNA: Gibt es also guten und schlechten Protest?

M’Barek: Guter Protest setzt sich für etwas ein, das demokratisch ist. Das kann auch bedeuten, mehr Transparenz und Mitspracherecht einzufordern, wenn die Bundesregierung in einer Notfallsituation bestimmte Maßnahmen ergreift. Wenn jemand in der Corona-Zeit gesagt hat, Moment mal, das geht alles so schnell, erklärt uns das besser, lasst uns auch andere Meinungen hören – dann war das demokratisch legitim.

KNA: Wie kann jede und jeder Einzelne etwas bewegen?

M’Barek: Es gibt viele Wege: über die Sozialen Medien, demonstrieren, offene Briefe unterschreiben, eine Partei oder Verbände unterstützen. Es kann auch Protest sein, Kollegen für ein Thema zu sensibilisieren oder an der Uni nicht mehr zu dem Dozenten zu gehen, von dem alle wissen, dass er Frauen belästigt hat. Politische Teilhabe beginnt damit, dass ich mitbekomme, was passiert. Viele Menschen stoßen dabei auf Themen, die sie betreffen oder bestürzen. Wenn ich morgens Radio höre und nicht einverstanden bin, kann daraus Protest entstehen.