Seine Bücher spielen in der Vergangenheit, erzählen aber auch etwas über unsere Gegenwart. Erst spät ist der Mediziner Tom Saller zum Schriftsteller geworden. Schuld daran ist nicht zuletzt eine Doppelkopf-Runde.
“Und Hedi springt” ist der fünfte Roman von Tom Saller. In seinen Büchern verbindet der 58-Jährige historische Fakten mit erzählerischen Elementen. In seinem 2018 erschienenen Erstlingswerk “Wenn Martha tanzt” war Sallers Urgroßmutter die Hauptfigur. Diesmal schmückt er das Schicksal seiner Großmutter Hedi aus, die nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs als Flüchtling aus dem heutigen Polen ins Bergische Land bei Köln kommt. Dort, in Wipperfürth, hat Saller, der von Haus aus Mediziner und Psychotherapeut ist, eine eigene Praxis. Im Gespräch mit der Katholischen Nachrichten-Agentur (KNA) geht es daher nicht nur um das Buch, sondern auch um “transgenerationelle Traumata” sowie Männer im Allgemeinen und Besonderen.
Frage: Herr Saller, wie kommt man als Psychiater und Psychotherapeut dazu, Romane zu schreiben?
Antwort: Ich habe nie den Plan gehabt, Schriftsteller zu werden. Aber es gibt da eine inzwischen legendäre Doppelkopf-Runde, in der mehrere Schriftsteller Mitglied sind, unter anderen Volker Kutscher.
Frage: Der Volker Kutscher, dessen Bücher über einen Kriminalkommissar im Übergang von der Weimarer Republik zu Adolf Hitlers Drittem Reich den Stoff für die TV-Reihe “Babylon Berlin” lieferten?
Antwort: Ja. Volker stammt übrigens wie ich aus Wipperfürth. Jedenfalls habe ich über Jahre hochinteressiert zugehört, wie die Literaturszene funktioniert – und einige Morde, die in Volker Kutschers Büchern vorkommen, ganz am Anfang von der medizinischen Seite her recherchiert.
Frage: Wie das?
Antwort: Ich habe zum Beispiel bei der Rechtsmedizin der Kölner Uni angerufen und gefragt, ob ein Mensch sterben kann, wenn man ihm einen spitzen Gegenstand durchs Ohr sticht.
Frage: Und die Antwort lautete?
Antwort: Bei einem spitzen Gegenstand im Ohr passiert nichts; da ist das Os petrosum, ein Abschnitt des Schläfenbeins, dazwischen. Aber wenn der Täter durch die Nase sticht – dann funktioniert das mit dem Mord.
Frage: Bis dahin scheint der Weg zum eigenen Buch noch recht weit.
Antwort: Auf einer Geburtstagsfeier sagte mir eine entfernte Verwandte: “Tom, unsere Leute kommen doch alle aus Pommern. Die hatten da doch so ein Musikinternat.” Als ich nach Hause gekommen bin, dachte ich mir: Musikinternat – das ist so eine Mischung aus Harry Potter, Burg Schreckenstein, Hanni und Nanni, eigentlich total faszinierend. Spontan habe ich mich hingesetzt und ein paar Sätze geschrieben, die später zum Beginn meines Debütromans “Wenn Martha tanzt” wurden: “Da ist der Fluss. Und die Brücke über den Fluss. Als der Nebel sich lichtet, erscheint das Haus. Behutsam, Schicht um Schicht, enthüllen sich seine Konturen. Schimmernde Laken gleiten lautlos zu Boden.”
Frage: Respekt.
Antwort: Danach war erstmal vier Wochen Pause, weil ich so ergriffen war von diesen Sätzen und weil ich alles plötzlich vor meinem inneren Auge sah. So nahm das Ganze seinen Lauf. Später habe ich mich hingesetzt und kontinuierlich geschrieben, das Musikinternat fantasiert, die wenigen familiären Quellen studiert, die es noch gibt. Und dann kam die Idee: Dinge, die ich nicht recherchieren kann, fiktionalisiere ich in Form eines Romans. Ich habe mir diese Hinterpommern-Szenerie ausgedacht und so, wie ich es mir vorstellte, beschrieben.
Frage: Waren Sie auch selbst vor Ort?
Antwort: Ich wollte gar nicht wissen, wie es in echt aussieht! In der Folge habe ich mir allerdings gedacht: Ist ja ganz nett, wenn einer in seiner Familiengeschichte herumwühlt. Aber das muss ein bisschen Pep haben.
Frage: Wo kam der Pep her?
Antwort: Ich habe mir gesagt: Wenn ich jetzt noch etwas dazuerfinde, soll es etwas sein, was mich interessiert. Da kam mir das Bauhaus in den Sinn. Zeitlich passte das und so habe ich Martha, die in Teilen meine echte Urgroßmutter ist, nach Weimar in die Anfänge des Bauhauses 1919 geschickt – wo sie aber nie gewesen ist.
Frage: Nach diesem Muster funktioniert auch “Und Hedi springt”.
Antwort: Es gibt wieder einen familiären Ausgangspunkt: Hedi, die faktisch meine Großmutter ist, und die bringe ich mit der historischen Figur des Alfons Müller-Wipperfürth zusammen.
Frage: Wer ist das?
Antwort: Ein Herrenmodenfabrikant, der zu seiner Zeit, in den 50er- und 60er-Jahren, einer der reichsten Männer Deutschlands war, bekannter als Neckermann und Grundig. Ein unglaublicher Macher. In Spitzenzeiten hatte Müller-Wipperfürth 8.000 Angestellte weltweit und 300 Verkaufsstellen in Deutschland.
Frage: In Ihrem Roman wird er als Patriarch der ganz alten Schule beschrieben.
Antwort: Er war für seine Leute da, aber auf der anderen Seite ein absoluter Tyrann und stur wie ein Ziegenbock. Auf seinen kometenhaften Aufstieg folgte ein tiefer Fall, als in den 60ern eine neue Mode kam: bunt, Patchwork, Hippies. Er wollte jedoch weiter seine Anzüge produzieren. Hinzu kamen die Vorwürfe der Steuerhinterziehung. Er musste 18 Millionen D-Mark nachzahlen.
Frage: War dieser Selfmademan ein Vorläufer von Jeff Bezos und Co?
Antwort: Alfons Müller-Wipperfürth hätte niemals in Venedig geheiratet und die halbe Stadt gemietet. Das wäre ihm viel zu teuer gewesen.
Frage: Die Figur der Hedi in Ihrem Buch ist eine bemerkenswerte Frau – als Assistentin von Müller-Wipperfürth aber immer wieder von den Launen und materiellen Zuwendungen ihres Chefs abhängig.
Antwort: Naja, man muss sich das eben so vorstellen: Hedi flieht am Ende des Zweiten Weltkriegs aus Pommern, bekommt ein Kind und landet schließlich im durch und durch katholischen Wipperfürth. Ihr Sohn: unehelich, ein Bastard, wie man damals sagte. Die Mutter: aus finanzieller Not in Vollzeit berufstätig, eine Rabenmutter. Damit war sie bei den Einheimischen unten durch.
Frage: Welche Botschaft verbinden Sie damit?
Antwort: Ich habe Hedi sehr bewusst als alleinerziehende Mutter angelegt. Damit gehört sie – und das würde ich auch für heute gelten lassen – fast schon zum Prekariat. Zeigen Sie mir die alleinerziehende Mutter, die im Übermaß Geld und Zeit hat. Wir leben diesbezüglich – auch wenn es sicher in vielen Bereichen Fortschritte gibt – immer noch in schwierigen Zeiten.
Frage: Liegt es daran, dass patriarchale Strukturen immer noch existieren? Konkret: Müssten Männer sich noch stärker hinterfragen?
Antwort: Ich arbeite ja als Psychotherapeut, und es fällt mir schwer, das zu sagen: Aber zuweilen schäme ich mich, ein Mann zu sein. Oft sind Beziehungsprobleme in der Praxis ein Thema und mitunter kommen Frauen in laufender Therapie auf den Gedanken, sich zu trennen. Die Variante, dass ein Paar diesen Schritt, auch mit Blick auf die eigenen Kinder, friedlich und harmonisch vollzieht, kommt bloß ein von zehn Mal vor.
Frage: Die neun anderen Male?
Antwort: Wird es hässlich. Die Männer rechnen künstlich ihr Einkommen herunter, um weniger Unterhalt zahlen zu müssen, überweisen den Unterhalt entweder verzögert oder gar nicht. Die wenigsten würden einen Dauerauftrag einrichten; das ist immer ein Machtspiel: Ich überweise das Geld mal drei Tage vorher oder nachher. Wenn ich nach meiner beruflichen Erfahrung gehe, hat ein überwiegender Anteil der getrennt lebenden Frauen mit Kindern immer noch das Nachsehen – auch wenn es Ausnahmen von dieser Regel gibt.
Frage: “Kinder versteht man am besten über ihre Eltern”, heißt es an einer Stelle im neuen Roman. Haben Eltern tatsächlich einen so prägenden Einfluss?
Antwort: Die menschliche Seele wird in den ersten vier Lebensjahren maßgeblich geprägt, und das geschieht eben meist durch Mutter und Vater. Man kann “Und Hedi springt” auf verschiedenen Ebenen lesen, eine ist die der transgenerationellen Traumata. Jede Generation hat ihre eigene Geschichte und kann ab einem gewissen Punkt kaum mehr aus ihrer Haut. Deswegen werden gewisse Aspekte konstant weitergegeben.
Frage: Wie blicken Sie auf die jüngste Generation?
Antwort: Man mag beispielsweise von Bewegungen wie “Fridays for Future” halten, was man will, aber dass junge Leute über das Klima nachdenken oder ihre Ernährungsgewohnheiten umstellen, finde ich großartig. Da sehe ich keine Spuren von Traumata etwa aus der Zeit des Zweiten Weltkriegs, sondern eine tolle Generation, auf die ich meine Hoffnungen setze.
Frage: Das wird vermutlich aber nicht auf alle jungen Menschen zutreffen.
Antwort: Natürlich sehe ich auch eine Generation, die mit Smartphones und Social Media groß wird, und die von ihren Eltern aus meiner Sicht bisweilen nur unzureichend geschützt wird, weil diese das nicht kennen oder können. Das macht mir Sorgen. Und dann habe ich immer mehr junge Leute mit Angst- und Panikattacken in der Praxis sitzen. Total liebenswerte Menschen, aber man fragt sich: Wo kommt das her?
Frage: Durch Corona vielleicht?
Antwort: Die Folgen von Corona wirken bis heute massiv nach. Bei zahllosen jungen Menschen ist die Autonomieentwicklung ausgebremst worden. Viele Familien und Partnerschaften sind unter Druck geraten. Wir als Gesellschaft haben – ungewollt – Schuld auf uns geladen.
Frage: Was bedeutet es Ihnen, zu schreiben?
Antwort: Das Schreiben ist eine Leidenschaft. Das Größte, Schönste und Beste, was ich neben meiner Familie erleben darf.