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Auf der Suche nach Helden

Derzeit treten Arbeitsalltag und Bundestagsdebatten in den Hintergrund: Die Fußball-Weltmeisterschaft ist in aller Munde. Der Ausnahmezustand offenbart auch eine Sehnsucht in der Gesellschaft. Experten betrachten den Starkult als zweischneidiges Schwert

© epd-bild / Dieter Sell

Früher wurden Könige und Kriegshelden bewundert, später Musiker und bildende Künstler. Der Wunsch, große Figuren zu verehren, lässt sich in vielen Kulturen feststellen. Auch heute ist es weit verbreitet, sagt der Philosoph Gunter Gebauer. Die Bereiche, wo solche Persönlichkeiten klassischerweise gesucht wurden, hätten jedoch ausgedient: „In der deutschen Politik kann das niemand erfüllen“, erklärt Gebauer. „So erfolgreich und klug die Kanzlerin ihre Politik machen mag, sie bietet keinen Anhaltspunkt für Verehrung. Aus der Wirtschaft hören wir eher Schreckensmeldungen.

Politik, Kunst oder Musik bieten keine Charismatiker

In der Kunst gibt es keinen Charismatiker, auf den sich alle einigen können; ebenso haben Musiker begrenzte Verehrerkreise.“
Was bleibt da noch? Gebauer meint: der Sport. Diese Bindekraft lässt sich momentan bei der Fußball-Weltmeisterschaft wieder beobachten: auf Fanmeilen, in Biergärten und Wohnzimmern. Fußball gilt als das letzte „große Lagerfeuer“, als der eine, zentrale Ort, um den sich alle sammeln, das verbindende Thema im Büro, im Freundeskreis, im Verein. Es funktioniert in allen Generationen und allen Schichten, unabhängig von Bildung und Vorwissen.
„Die Gesellschaft sucht im Fußball nach Helden“, sagt auch Harald Lange. Der Sportwissenschaftler forscht am bundesweit einzigartigen Institut für Fankultur in Würzburg. Cristiano Ronaldo, Lionel Messi, Neymar: Diese Beispiele für kultische Verehrung nennen beide Forscher. Verletzungen, Gerüchte um Vereinswechsel, das Verhältnis zu den Mitspielern: Alles, was diese Spieler tun, taugt zu einer Schlagzeile. Manche Diskussion scheint nüchternen Beobachtern übertrieben. Doch auch kritikwürdige Vorfälle wie Steuerskandale hinterlassen kaum einen Kratzer bei den Lichtgestalten. „Den Helden verzeihen die Fans alles“, sagt Lange.
Zugleich laste durchaus Druck auf derart prominenten Spielern. „Aber jeder hat offenbar seinen Weg gefunden, damit umzugehen – der eine etwas extrovertierter, der andere etwas ruhiger“, so der Forscher. Als Normalbürger stelle man es sich belastend vor, täglich in der Zeitung vorzukommen und vermeintlich alleine für Sieg oder Niederlage verantwortlich zu sein. „Aber die Spieler, die in solche Rollen kommen, wachsen da hinein.“ Viele vergäßen, dass sich im Fußball eine Art „unsichtbarer Selektionsprozess“ vollziehe, lange bevor jemand ins Rampenlicht trete: „Viele schaffen es gar nicht bis in den Profibereich – auch, weil sie an solchen Faktoren scheitern“, erklärt Lange. „Diejenigen, die es schaffen, sind mit allen Wassern gewaschen.“
Laut Gebauer gibt es auch Gegenbeispiele: Fußballer, die sehr erfolgreich sind, sich einer übermäßigen Verehrung aber bewusst entziehen. „Etwa Toni Kroos ist sicher einer der weltbesten Spieler auf seiner Position. Er vermeidet aber alles, um in die Rolle eines Helden zu geraten.“ Auch Thomas Müller trete stets sympathisch auf, aber zu bodenständig, um als überlebensgroß zu gelten. „Er stellt sich eben nicht hin wie Ronaldo“, sagt Gebauer schmunzelnd. „Der wiederum giert danach, vom Publikum gefeiert zu werden.“
Diesen Effekt erreiche allerdings auch der beste Spieler nicht allein. Den Grundstock – ein wichtiger Spieler für die eigene Mannschaft zu sein, entscheidende Impulse zu geben, eine gewisse Ausstrahlung zu haben – müsse jeder selbst liefern, so Gebauer. „Alles weitere – Interviews oder die Rezeption über Nebenschauplätze wie Werbung – läuft über die Medien.“
In der heutigen Zeit setzen sich die Stars zudem über die Sozialen Medien selbst in Szene. Frühere Publikumslieblinge hätten durch ihr Können, aber auch durch eine „Aura des Außergewöhnlichen, Geheimnisvollen“ fasziniert, erklärte der Medienwissenschaftler Bernhard Pörksen kürzlich in der „Welt“. Heute jedoch sei der Superstar keine Distanzfigur mehr, sondern werde scheinbar zu einem greifbaren, gewöhnlichen Menschen, dessen Privatleben und Gedankengänge jedermann auf Instagram oder Facebook verfolgen könne.

Nur wenige überleben dauerhaft als Idol

Schlimm sei diese Entwicklung nicht, so Pörksen. Sie könne allerdings kippen, wenn Nichtigkeiten skandalisiert und Menschen an den Pranger gestellt würden. In Bezug auf die Fußballhelden sieht Gebauer eine weitere Gefahr: das Karriereende. „Das ist eine Klippe, die viele Spieler nicht vorhersehen.“ Wer zwei Drittel seines Lebens noch vor sich habe und wisse, dass er künftig höchstens noch für das gefeiert werde, was er einmal war, der könne auch abstürzen. „Es gibt nur ganz wenige, die als Idol überleben.“
Das mag den meisten Fans egal sein, wenn sie bei der WM mitfiebern, zittern, leiden und jubeln. „So, wie der Medienfußball gegenwärtig läuft, brauchen wir Helden, damit das Geschehen attraktiv bleibt“, sagt Lange. Und auch wenn sich die Inszenierung verändert – das Phänomen des Starkults gab es im Fußball schon immer, ergänzt Gebauer. „Fritz Walter wurde geradezu kultisch verehrt, später war jeder entweder Beckenbauer- oder Netzer-Fan.“ Auch damals, so der Experte, beruhte der Hype freilich auf einer Idealisierung. Sie sei aber so intensiv, „dass man sie durchaus als Glaubensbeziehung bezeichnen kann“.