Auf der Hallig hat die Natur immer Vorfahrt

In der endlosen Nordsee lebt man entschleunigt, naturnah und bewusster, erzählt Inselpfarrerin Hildegard Rugenstein

Stürmische See, weite Sicht und frische Nordseeluft ziehen jeden Sommer zahlreiche Touristen auf die Hallig Hooge. Inzwischen ist sie aber nicht mehr nur ein Sehnsuchtsort für Urlauber, sondern auch Gradmesser für den Klimawandel.

Für die evangelische Pastorin Hildegard Rugenstein war es himmlische Fügung: Als sie im Frühjahr 2020 über einen Medienbericht erfuhr, dass auf der nordfriesischen Hallig Hooge eine Pastorenstelle frei ist, fühlte sie sich sofort angesprochen. Im Januar 2021 packten sie und ihr Mann die Koffer und zogen aus der 180 000-Einwohner-Stadt Potsdam auf die gut 100 Bewohner zählende Hallig.

Bis heute haben sie ihren Entschluss nicht bereut. „Nach Besuchen auf dem Festland sind wir froh, wieder auf unsere Hallig zu dürfen“, sagt die 63-Jährige. Man lebe intensiver, ruhiger und trotzdem vielfältiger, so die Pastorin. Dieses wohlige Lebensgefühl lasse sich nicht toppen.

Der Klimawandel ist unmittelbar erlebbar

Hooge ist mit sechs Quadratkilometern nach Langeneß die zweitgrößte der zehn Halligen im Schleswig-Holsteinischen Wattenmeer. Bis zu 90 000 Tagestouristen besuchen sie jährlich, hinzu kommen 40 000 Übernachtungen.

Hooge wirbt mit Natur pur, dem Heimatmuseum, der Naturschutzstation Wattenmeer und der Kirchwarft mit seiner markanten Architektur. Viele Übernachtungsgäste kommen auch zu Rugensteins Gottesdiensten. Die natürliche Meditation durch den Blick in die Weite mache die Gäste dankbar für die unfassbare Schönheit von Nordsee und Wattenmeer, sagt sie.

Auf der Hallig lebt man mit der Natur – und spürt unmittelbar die Folgen des Klimawandels. Die Menschen wohnen auf zehn Warften, also auf aus Erde aufgeschütteten Siedlungshügeln. Sie bieten Schutz bei Sturmfluten. „Die Unwetter werden extremer, das Wasser wird aggressiver, der Meeresspiegel steigt“, sagt Rugenstein, die im vergangenen Februar ihre erste Sturmflut auf Hooge erlebte. Dann steigt das Wasser bis zur Warftkrone, also etwa fünf Meter über den Meeresspiegel.

„Das kann auch Menschen Angst machen, die schon lange auf der Hallig wohnen, gehört aber zum Leben hier dazu“, sagte der stellvertretende Bürgermeister und Leiter der Schutzstation Wattenmeer, Michael Klisch. Bislang registrieren die Hooger alle zehn Jahre eine solche Flut.

„Land unter“ dagegen, also Hochwasser, das einzelne Flächen der Hallig überspült, ist etwa an fünf Tagen im Jahr üblich. Klisch rechnet damit, dass das Hochwasser auf der Hallig in Zukunft weiter zunehmen wird. Langfristig sollten alle Warften auf den Halligen auf eine sichere Höhe gebracht werden, um für stärkere Sturmfluten gewappnet zu sein, sagt er. Für diese Aufwarftung läuft ein 30 Millionen Euro teures Investitionsprogramm des Landes Schleswig-Holstein. Auf Hooge müssen noch vier Warften aufgerüstet werden.

Politik: Halligen sollen bewohnbar bleiben

Die Planung für die Aufwarftung verlaufe zäh, kritisiert Klisch. Aber auch die neue schwarz-grüne Landesregierung verfolge das Ziel, die Menschen auf den Halligen zu halten. „Wenn alle Maßnahmen greifen und die Prognosen sich nicht zu sehr verschlechtern, wird auch in 50 Jahren auf den Halligen Leben möglich sein.“

Für Pastorin Rugenstein sind die Halligen Hinweisschilder in die Zukunft. „Wir sind vorausgeschubst in das, was für uns alle kommen wird.“ Auf Hooge habe die Natur immer Vorfahrt. Die Menschen könnten nicht alles selbst bestimmen. Dadurch entwickele sich eine demütige, geduldigere, aber auch zupackende Sicht auf die Welt. Auch das Thema Nachhaltigkeit sei präsenter als andernorts. „Hier sehe ich noch deutlicher als in der Stadt, wie viel Müll ich produziere und dass dieser Müll zurück ans Festland muss.“

Nachwuchs-Mangel bei Pfarrern und Bewohnern

Am 1. November fällt die Hallig in den Winterschlaf. Der Fährplan ändert sich von täglich bis zu zehn Fahrten nach Schlüttsiel aufs Festland auf wenige in der Woche. Je nach Witterung ist die Hallig im Winter tagelang vom Festland abgeschnitten.
Die Einsamkeit muss man mögen, wenn man auf Hooge dauerhaft wohnt. Die Pastorenstelle war vor der Wiederbesetzung durch Hildegard Rugenstein fünf Jahre lang vakant. Es fehle der Nachwuchs, nicht nur bei Pastoren, sondern auf der Hallig insgesamt, sagt Rugenstein. Auch das Altwerden sei mangels medizinischer Versorgung schwierig. Bei akuten gesundheitlichen Problemen müssen die Hallig-Bewohner aufs Festland geflogen werden. Eine Blinddarmentzündung kann lebensgefährlich werden, wenn wegen Nebel oder Sturmflut kein Hubschrauber auf Hooge landen kann.

Extreme Hitze plagt die Hooger dagegen selten: Im Sommer herrschen dort bis zu 15 Grad weniger als in München. So sprang Anfang Juli auf der Kirchwarft tatsächlich die Heizung noch einmal an.

Weitere Informationen zu Hildegard Rugensteins Kirchengemeinde: www.halligkirche.de