Audio-Amourös – Das Kino und seine Liebe zum Radio

2023 feierte das Radio in Deutschland 100. Geburtstag. Das Medienecho zum Jubiläum zeigte, welche Anziehungskraft das Medium nach wie vor ausübt. Auch Filme haben sich immer wieder mit der Wirkkraft des Radios befasst.

Jede Generation steht auf den Schultern von Riesen. Für die großen Erfindungen der Menschheit gilt das erst recht. Ohne Dampfmaschine kein Auto. Ohne Fotografie kein Film. Und ohne die Entdeckung elektromagnetischer Wellen kein Radio. Vor etwas mehr als einhundert Jahren lief die erste Rundfunkübertragung in Deutschland: Am 29. Oktober 1923 machte die Sendestelle Berlin davon Mitteilung, dass „der Unterhaltungsrundfunkdienst mit Verbreitung von Musikvorführungen auf drahtlos telefonischem Wege“ beginne.

Nun konnten Musik und das gesprochene Wort live an mehrere Empfänger gleichzeitig versendet und von diesen angehört werden – Jahre bevor Al Jolson als „Jazz Singer“ (1927) den Ton auch in den kommerziellen Film brachte. Präziser: den synchron übertragenen Ton. Denn klanglos war der sogenannte Stummfilm dank der von anwesenden Orchestern eingespielten Musik ja auch schon vorher nicht.

Mit der Etablierung des Tonfilms wurden Sprache und Geräusche dann zur wichtigen Erzählebene. Schon im „Testament des Dr. Mabuse“ (1932) ist der Ton nicht einfach nur da, sondern hat das Kino geradezu übernommen. So drückte es der Kritiker Michael Wood einmal aus. Lichtjahre vor der Etablierung der Podcasts versuchte Fritz Langs diabolisch gespielter Dr. Mabuse, sich mittels einer aufgezeichneten Tonaufnahme ein Alibi zu verschaffen – was später in zahlreichen Filmen und Serien nachgeahmt wurde.

Darüber hinaus hat die bis heute andauernde Faszination für das Medium Radio auch vor dem Spielfilm nicht haltgemacht. Einige Beispiele:

„Verzeihen Sie mir, wenn ich die Vergangenheit verkläre“, meint Woody Allen als Erzähler seiner (1987) gleich zu Beginn. Der Film spielt in den 1930er- und 1940er-Jahren. Vor der Etablierung des Fernsehens hatten die Rundfunkempfänger das Unterhaltungsmonopol im Wohnzimmer der Menschen. Die Stimmen aus den großen Radiosendungen wie „Dragnet“, „Lone Ranger“ oder „The Green Hornet“, aus denen später selbst TV-Serien und Filme wurden, zogen die Hörer in Bann. „Radio Days“, ein biografisches, nostalgisch-lustiges Werk, ist der womöglich schönste Film, der je über die Magie des Rundfunks gedreht wurde.

Die Blütezeit des Radios inspirierte auch Guy Maddin zu (2003). Als schwerreiche Brauereibesitzerin ruft Isabella Rossellini nach der Abschaffung der Prohibition einen Wettbewerb um die traurigste Musik aus. Ihr perfides Kalkül: Je häufiger traurige Musik erklingt, desto mehr Bier trinken die Menschen.

Fürs Radio arbeitete zu Beginn seiner Karriere auch der noch sehr junge Orson Welles, der wenige Jahre später mit „Citizen Kane“ das Kino revolutionierte. Am 30. Oktober 1938 wurde von New York aus seine vermeintliche Radioreportage ausgestrahlt, die eine Alien-Invasion verkündete. Was in Wahrheit eine Hörspielfassung von H.G. Wells‘ Roman war, riss nicht nur die Zuhörer aus den Wohnzimmersesseln, sondern schrieb zugleich Unterhaltungsgeschichte.

Die Nazis entdeckten in Deutschland mit der Propaganda noch eine weitere Funktion des Radios. Waren die Rundfunkgeräte anfangs noch unerschwinglich, fand das Medium durch den sogenannten Volksempfänger Einzug in die Wohnzimmer des Dritten Reiches. Auch die Alliierten bedienten sich zur Abwehr der deutschen Aggression während des Zweiten Weltkriegs des Mittels der Propaganda.

In , einem frühen Sherlock-Holmes-Film mit Basil Rathbone, deckt der Meisterdetektiv eine Nazi-Verschwörung auf. Deutsche Agenten wollen mit Falschmeldungen übers Radio Angst in der britischen Bevölkerung verbreiten. Der Informationskrieg mit Fake News war also auch schon damals ein Thema, nicht erst in Zeiten von Social Media.

Ab den 1950er-Jahren diente das Radio vermehrt der Verbreitung von Musik für die neuerdings Teenager genannten jungen Zuhörer, oft präsentiert von charismatischen Moderatoren. In von George Lucas ist dies der (auf dem Radio-DJ Wolfman Jack basierende) sagenumwobene Wolfman, der Curt Henderson (Richard Dreyfuss) und seine Freunde nicht nur mit Musik beeindruckt. Er hilft ihm auch bei der Suche nach einem Mädchen, das Curt nach einer flüchtigen Begegnung nicht aus dem Kopf geht.

Weniger um Romantik als um handfesten Suspense ging es Clint Eastwood in , der im deutschen Verleih erstaunlicherweise „Sadistico – Wunschkonzert für einen Toten“ hieß. Eastwood selbst spielt Dave, der beim Sender KRML als DJ arbeitet. Eine seiner treuesten Hörerinnen wünscht sich häufig den Jazz-Standard „Misty“. Als Dave in der Kneipe eine Frau namens Evelyn kennenlernt und mit ihr eine kurze Affäre beginnt, offenbart sie sich nicht nur als ebenjene Hörerin, sondern bald auch als schwer gestörte und besitzergreifende Frau. Evelyn terrorisiert Dave, tötet im Wahn seine Haushaltshilfe und lässt auch danach nicht vom Objekt ihrer Begierde ab.

Piratensender gab es in der Geschichte des Rundfunks zahlreiche, doch die wenigsten von ihnen sendeten tatsächlich von Schiffen. Nur während der großen Zeit der Beatles und Stones in den 1960er-Jahren taten dies gleich mehrere britische Stationen auf See. Hintergrund war, dass die BBC sich damals weigerte, deren Musik zu spielen. Dies bildet den Rahmen von Richard Curtis‘ süffigem .

Von einem Moderator erzählt Barry Levinsons Tragikomödie . Der von Robin Williams unnachahmlich überdreht interpretierte Adrian Cronauer moderiert für den GI-Sender AFN in Saigon und begeistert die Soldaten mit populärer Musik und spöttischen Bemerkungen über Präsident Nixon. Einigen Funktionären im Militär wird er schließlich zum Ärgernis. Wegen seiner Kontakte zu Einheimischen wird Cronauer strafversetzt.

In erzählte Oliver Stone die Geschichte des 1984 von einem Neonazi ermordeten Moderators Alan Berg – ein atmosphärischer, höchst beklemmender und bis heute der wohl beste Film des Regisseurs.

In Nora Ephrons romantischem Kassenschlager nutzt ein kleiner Junge eine „Weihnachtswunsch“ genannte Sendung, um für seinen verwitweten Vater (Tom Hanks) eine neue Frau zu finden. Damit rührt er nicht nur Annie (Meg Ryan) zu Tränen.

Zur Blütezeit der deutschen Beziehungskomödien in den 1990er-Jahren kümmerte sich Katja Riemann in als Moderatorin um das Liebesleben ihrer Kundschaft; an dem Fernsehfilm wusste vor allem der lässige Soundtrack mit US-Soulstimmen der 1950er- und 1960er-Jahre zu überzeugen.

Eine Hommage an eine zur Zeit des Drehs noch laufende Radioshow alter Prägung gelang Robert Altman mit . Garrison Keillor, der Begründer von „A Prairie Home Companion“ (so auch der Originaltitel des Films), schrieb nicht nur das Drehbuch, sondern spielte sich auch selbst; er ließ sich aber von zahlreichen Stars zur Hand gehen – darunter Tommy Lee Jones, Meryl Streep und nicht zuletzt Lily Tomlin, ein häufiger Gast in Altmans Filmen. Ein würdiges Alterswerk des Regisseurs, der wenige Monate nach dem Kinostart 2006 starb.

Das oft besungene Radio gibt es immer noch, aber es hat an Bedeutung stark eingebüßt – und seine Erscheinungsform geändert. Den Live-Moment besitzt es längst nicht mehr exklusiv. Sendungen kann man sich inzwischen in Audiotheken und Podcasts unabhängig von Sendezeiten anhören. Sperrige und wenig quotenträchtige Formate drohen zunehmend gleich als Konserve zu enden, ohne überhaupt live gesendet worden zu sein. Derlei digitale Friedhöfe sind denkbar weit von der Intimität des Gemeinschaftsmoments entfernt, wie ihn zuletzt Emmanuelle Beart in beschwor, mit Charlotte Gainsbourg als verlassener Mutter, die sich im Paris der 1980er-Jahre eine neue Existenz aufbaut.