Pro: Atomwaffen sind unverzichtbarer Teil der Sicherheitspolitik
von Michael Haspel
Russlands Krieg gegen die Ukraine und die Drohung mit dem Einsatz von Atomwaffen haben die Debatte um nukleare Abschreckung neu entfacht. Wer Verantwortung für die Sicherheit in Europa trägt, steht vor einem tragischen Dilemma: Atomwaffen sind heute – so bedrückend das ist – unverzichtbarer Teil der Sicherheitspolitik. Das zeigt, wie stark der Unterschied zwischen politischer Wirklichkeit und moralischen Idealen geworden ist.
Ein Verzicht auf diesen Schutz wäre hochriskant. Staatenlenker, die davon ausgehen können, auf ihre Gewalt werde nicht eindeutig und stark geantwortet, fühlen sich zu weiteren Angriffen ermutigt. Die Entwicklung in der Ukraine seit 2014 belegt: Staaten, die militärisch bedroht werden, können ihre Freiheit nicht ohne weitreichende Sicherheitsgarantien bewahren.
Nukleare Abschreckung hat “moralische Problem”
Auch deshalb arbeitet die Evangelische Kirche in Deutschland seit Beginn des jüngsten russischen Angriffs im Jahr 2022 an einer neuen friedensethischen Grundsatzschrift. Die Bedingungen haben sich grundlegend geändert: Das internationale Recht wird geschwächt, Regeln werden missachtet, und die praktische Lage verlangt einen Blick auf das Machbare, nicht auf Wunschvorstellungen. Die bisherige Denkschrift aus 2007 lebte noch vom Optimismus, dass internationale Konflikte friedlich gelöst werden können und die Rolle der Waffen abnimmt – das ist spätestens nach dem Ukrainekrieg nicht mehr realistisch.
Dabei bleibt das moralische Problem der nuklearen Abschreckung offensichtlich. Es handelt sich um einen klassischen Wertekonflikt, auch „schmutzige Hände“ oder „dirty-hands-situation“ genannt: Wer politisch verantwortlich handelt, steht vor der Entscheidung zwischen zwei Übeln. Der kategorische Verzicht auf Atomwaffen wäre zwar ethisch richtig, könnte aber schweres Unrecht und neue Gewalt befördern. In solchen Situationen bleibt nur die Frage: Was ist das kleinere Übel? Moralisch rein kommt man aus dieser Frage nicht heraus.
USA als Schutzmacht nicht mehr verlässlich
Dazu kommt: Auch die Vereinigten Staaten von Amerika sind als Schutzmacht Europas derzeit nicht mehr verlässlich. Die politische Entwicklung unter Präsident Donald Trump weckt Zweifel, ob die USA im Ernstfall an der Seite Europas stünden. Für Deutschland ist deshalb die eigene Mitwirkung an der nuklearen Abschreckung innerhalb der Nato eine Frage der Verantwortung.
Fazit: Sicherheit in Europa braucht nicht nur militärische Abschreckung, sondern auch gezielte Förderung von internationalem Recht, diplomatischer Zusammenarbeit, Rüstungskontrolle und zivilen Wegen der Konfliktlösung – ganz klar. Solange aber ein einseitiger Verzicht auf die ultimative Abschreckung durch Atomwaffen Europas Schutz gefährdet, bleibt –so traurig es ist – die nukleare Abschreckung das kleinere Übel, auch wenn sie eigentlich niemand will. Man darf gespannt sein, wie die EKD dies in ihrer Denkschrift „Welt in Unordnung – gerechter Friede im Blick. Evangelische Friedensethik angesichts neuer Herausforderungen“ aufgreift, die am 10. November auf der Synodentagung in Dresden vorgestellt werden soll.
Michael Haspel ist Professor für Systematische Theologie an der Universität Erfurt.
Contra: Die Lehre Jesu ist Gewaltlosigkeit
von Margot Käßmann
Verwundert reibe ich mir die Augen. Vor einem Jahr habe ich die Biografie Michael Haspels über Martin Luther King in einer Rezension positiv gewürdigt. Zur Erinnerung: King war Pazifist, Friedensnobelpreisträger. Jetzt erklärt derselbe evangelische Theologe, er stelle infrage, „ob der Weg über einen einseitigen Verzicht auf Atomwaffen wirkt gegenüber revisionistischen Mächten, die zu kriegerischen Mitteln bereit sind …“. Wie passt das zusammen?
Man muss nicht nach Hiroshima fahren, um zu erfahren, welche unendliche Zerstörung eine einzige Atombombe auslöst. Als ich aber am 6. August 2001 auf Einladung von Oberbürgermeister Akiba in Hiroshima bei der Gedenkfeier für die Opfer des Atombombenabwurfs eine Rede halten durfte, ist mir durch Augenzeugen das ganze Grauen bewusst worden. Rund 100.000 Menschen starben sofort, sie zerfielen geradezu zu Asche. Bis Jahresende 1945 starben weitere 130.000 einen grausamen Tod, Zehntausende später an den Folgen ihrer nuklearen Verstrahlung. Damals habe ich gesagt, mir sei bewusst, das Christentum habe in seiner Geschichte allzu oft Gewalt legitimiert. Doch ich sei überzeugt, dass die Kirchen der Welt heute eindeutig für Abrüstung und Frieden eintreten.
Hemmungslose Kriegseuphorie greift um sich
Das soll jetzt hinfällig sein? Mir scheint, es greift eine hemmungslose Kriegseuphorie um sich, die Aufrüstung propagiert, aber nicht mehr hinschauen will, welche Folgen Waffen, gar Atomwaffen für Menschen haben. Aus nahezu allen Parteien hören wir Rufe nach nuklearer Abschreckung. „Kriegstüchtig“ sollen wir werden, Milliarden werden in Rüstung investiert. Wage es niemand, Fragen zu stellen! Wer das tut, gilt als dumm, naiv, Putinversteherin.
Laut Friedensforschungsinstitut Sipri gibt es derzeit weltweit rund 12.000 nukleare Sprengköpfe, von denen 9500 einsatzfähig sind und aktuell modernisiert werden. Zwanzig davon lagern höchstwahrscheinlich wegen der nuklearen Teilhabe Deutschlands innerhalb der Nato in Büchel. Es geht um Typ B-61 – er hat die drei- bis vierfache Sprengkraft der Hiroshima-Atombombe!
Eine Frage der Glaubwürdigkeit
Es ist für mich unvorstellbar, als evangelische Christin die Drohung mit derartigen Waffen zu befürworten. Es geht doch um die Frage, wie wir in Frieden miteinander leben. Die Lehre Jesu ist eindeutig eine der Gewaltlosigkeit. „Krieg soll nach Gottes willen nicht sein“ haben die Kirchen der Welt 1948 proklamiert. Nach Martin Luther King bringt uns die Gotteskindschaft jedes Menschen dazu, glasklar für Gewaltlosigkeit einzutreten.
Die EKD hat 2007 in ihrer Friedensdenkschrift erklärt, die Drohung mit Nuklearwaffen sei auch zur Selbstverteidigung nicht legitim. Diese Grundüberzeugungen teile ich. Ich halte es für eine Frage der Glaubwürdigkeit, in diesen Zeiten von Rüstungswahn für Frieden einzutreten und eindeutig jede Abschreckung durch Atomwaffen abzulehnen. Denn bei nuklearen Waffen handelt es sich nicht um irgendeine Form von Gewalt, sondern um Massenvernichtungsmittel, die Zerstörung, Vernichtung und Tod von unvorstellbarem Ausmaß mit sich bringen. Das darf in der Tat um Gottes Willen nicht sein.
Margot Käßmann ist Pfarrerin im Ruhestand, sie war Bischöfin und EKD-Ratsvorsitzende.
