Arte-Dokumentation blickt hinter Kulissen des Bolschoi-Theaters

Das Moskauer Bolschoi-Theater ist neben seiner Stellung als wichtigstes Ballett- und Opernhaus Russlands auch eine Bühne für das russische System. Ein Dokumentarfilm blickt hinter die Kulissen.

Das Moskauer Bolschoi-Theater ist neben der Petersburger Eremitage die wohl wichtigste Kulturinstitution in Russland. Wer hier Ballett tanzen oder Opern singen darf, hat es nach den gängigen Maßstäben geschafft. In ihrer Dokumentation “Hinter dem Vorhang – Das Bolschoi, die Kunst und der Krieg” versuchen Philipp Mangold und Radik Golovkov, einen genaueren Einblick in diesen kulturellen Mikrokosmos zu gewinnen. Arte strahlt sie am 2. Juni von 23.05 bis 00.30 Uhr aus.

Die Regisseure lassen aktuelle Verantwortliche des Bolschoi ebenso zu Wort kommen wie ehemalige Protagonisten – den einstigen Leiter der künstlerischen Programmplanung, Vadim Zhuravlev, oder die frühere Primaballerina Olga Smirnova, die seit Ausweitung des russischen Angriffskrieges auf die gesamte Ukraine 2022 im Ausland lebt. Auch der Autor Wladimir Kaminer trägt einige interessante Beobachtungen bei.

Die Dokumentation berichtet über rigide durchgeführte Proben, ergänzt durch Filmschnipsel aus Militärparaden und in Formation fliegenden Kampfflugzeugen. Die durchaus bewährte dokumentarische Methode, auf einen einordnenden Kommentar aus dem Off zu verzichten, lässt in diesem Fall einige Lücken: So erfährt man zwar, dass das Bolschoi eine staatliche Institution ist. Wie es hier allerdings jenseits der zugänglich gemachten Aufnahmen zugeht, erschließt sich nicht wirklich. Kaum vorstellbar, dass eine solche politisch eingebundene Einrichtung nach außen transparent agiert. So bleiben die schon vor dem Krieg zahlreichen Skandale rund um das Bolschoi – wie der Säureangriff auf den ehemaligen künstlerischen Leiter Sergej Filin – unerwähnt.

Die im Film fürs Bolschoi genutzte Metapher des “Rädchens im Getriebe” klingt zwar einleuchtend, bleibt aber unspezifisch. Die Behauptung eines Regisseurs, ein “politisch inaktiver Mensch” zu sein, scheint dagegen auf ein verbreitetes Phänomen zu verweisen: den Wunsch, sich aus dem großen Ganzen einfach heraushalten zu können.

Künstlerisch setzt das Bolschoi heute auf technische Perfektion, bleibt ästhetisch aber konservativ. Nacktheit ist verpönt, alte Aufführungsideale werden konserviert. “Sobald man das Theater betritt, wird einem klar, wie die zwischenmenschlichen Beziehungen im heutigen politischen System funktionieren”, sagt Smirnova. Zhuravlev nennt das Bolschoi ein “Abbild des Staates”.

Und genau darum geht es dem Film: über das Porträt der russischen Kulturinstitution vom heutigen diktatorischen Russland zu erzählen. Der künstlerische Leiter Machar Wasijew eignet sich mit seiner kalten, unbarmherzigen Art sehr gut dafür, dieses System zu verkörpern. Zitate wie “Bei den Proben sind wir Soldaten und haben Generäle, die diesen Prozess leiten” oder das Anprangern einer “Form von Sklaverei” passen ins Bild.

Nun erscheint der Umgang von künstlerischer Leitung und Regisseuren mit ihrem Personal äußerst streng, entspricht aber einem bereits bekannten Bild des Balletts als unmenschlicher Zurichtungsstätte. Was hieran spezifisch russisch-putinistisch sein soll, erschließt sich nicht ganz.

Der zum Zeitpunkt der Dreharbeiten noch amtierende Intendant Vladimir Urin war in seiner Funktion ein Angestellter des russischen Staates. Zur Wahrheit gehört allerdings auch, dass Urin kurz nach dem russischen Angriff einen offenen Brief gegen den Krieg unterzeichnet hat. Im Dezember 2023 wurde er vom Putin-Freund Valeri Gergijev abgelöst (diese Tatsache kann der offenbar im Herbst 2023 abgeschlossene Film naturgemäß nicht mehr enthalten).

Als für den Film verantwortlicher Sender wird auf der Seite der Produktionsfirma Kinescopefilm neben ZDF und Arte auch der halbstaatliche russische Sender Channel One genannt. Ob die Aufnahmen aus dem Inneren des Bolschoi auf diesen zurückgehen, bleibt unklar. Das bei Arte angegebene Produktionsjahr 2021 kann jedenfalls nicht stimmen – zu diesem Zeitpunkt war der Krieg noch nicht auf die gesamte Ukraine ausgeweitet worden und Olga Smirnova noch am Theater tätig.

Die nachträgliche Verzahnung des Kriegsausbruchs mit dem Mikrokosmos des Theaters wirkt letztlich erzwungen. Trotz dieser Ungereimtheiten ergeben sich einige interessante Einblicke in das Innenleben dieser in Putins Russland politisch nutzbar gemachten Einrichtung.