Arte-Doku über den Choreografen John Neumeier

Menschenfreund und Geschichtenerzähler: Ein Film beleuchtet Leben und Werk des Ballettdirektors John Neumeier, der stets klassische mit modernen Formen zu verbinden wusste. Er bleibt auch mit 85 Jahren neugierig.

“Ich wollte immer Menschen, die tanzen, sehen – und nicht tanzende Menschen.” So umschreibt der Tänzer, Choreograf und Ballettdirektor John Neumeier die Grundlage seines beruflichen Selbstverständnisses. “Der Humanist unter den Gegenwartschoreografen”, so nennt ihn die Tanzkritikerin Dorion Weickmann in der Dokumentation “John Neumeier – Ein Leben für den Tanz”, die Arte am 30. Juni von 21.50 bis 22.45 Uhr ausstrahlt. Nach 51 äußerst erfolgreichen Jahren gibt der gebürtige US-Amerikaner diesen Sommer die Leitung des “Hamburg Ballett” ab. Grund genug, einen Blick auf sein Leben und Schaffen zu werfen.

Der Filmemacher Andreas Morell begleitet den stets freundlichen Neumeier an verschiedene Orte seiner Kindheit, Ausbildung und Karriere, schaut ihm bei Proben in Chicago, Paris und Hamburg über die Schulter. So entsteht ein interessanter und sympathischer, bei einer kompakten Laufzeit von 55 Minuten aber eher kursorischer Einblick in das Lebenswerk des Tänzers.

Man erfährt von Neumeiers Aufwachsen in einer polnisch- und deutschstämmigen Familie im Mittleren Westen, einer ersten Begegnung des damals Fünfjährigen mit der Tanzkunst, die zur Initialzündung wurde, seiner Stepptanz- und Ballettausbildung in Milwaukee und Chicago, der frühen Faszination für den russischen Tänzer Vaslaw Nijinski. Den wichtigen, prägenden Begegnungen mit seinem Mentor John Walsh, einem Jesuitenpater, der das Theater der Marquette-Universität leitete, sowie der Modern-Dance-Ikone Sybil Shearer, die ihn stark beeinflusste. In den 1960er Jahren kam Neumeier nach Europa, ließ sich nach Stationen in London, Stuttgart und Frankfurt in Hamburg nieder, führte das dortige Ballett zu großen, internationalen Erfolgen.

Neumeiers große Begabung als Geschichtenerzähler wird betont, sein persönlicher Zugriff auf die Stoffe und sein Interesse am Menschen thematisiert: Fasziniert von Emotionen und zwischenmenschlichen Beziehungen, formt er die Tänzer seiner Compagnie mit durchaus strenger Hand, integriert aber auch deren jeweilige Individualität in seine Inszenierungen. Die Zugewandtheit des Choreografen bezieht sich dabei nicht nur auf seine Tänzer, sondern auch auf das Publikum: Dieses solle, so Neumeier, einen “kleinen Teil von sich selbst wiedersehen im Theater”.

Zu diesem Konzept – bei dem der Inhalt, also die Emotion die Form bestimmt, nicht umgekehrt! – gehört Neumeiers Fähigkeit, immer wieder neu anzufangen, sich nicht auszuruhen auf alten Mustern. “Es ist so, als würde man morgens aufs frische Gras hinauslaufen”, berichtet etwa die Ex-Tänzerin Heather Jurgensen über das Arbeiten mit Neumeier. Für die Tanzkritikerin Jacqueline Tuilleux ist er “ein bisschen wie ein Geistlicher: Von herrschaftlicher Höflichkeit. Ein Herr. Er hat diese seltene Liebenswürdigkeit…”.

Es scheint, als würden Neumeiers Wärme und Aufmerksamkeit zigfach auf ihn zurückfallen; die hier zu hörenden Interviewten und Weggefährtinnen wissen nur das Beste zu berichten. Ein wenig Wasser in den Wein gießt höchstens der Musikkritiker Manuel Brug, wenn er vermutet, dass Neumeier sich selbst wohl nicht “für so wegweisend oder weiterführend halten würde wie, jetzt sagen wir mal, (William) Forsythe oder (George) Balanchine”.

Die bildnerische und akustische Umsetzung wie Montage sind weitgehend gelungen; neben betörenden Archivaufnahmen historischer wie Bildern aktueller Inszenierungen stehen vor allem spannende Einblicke in Ballettproben. Nur gelegentlich vermag die zumeist stimmige Kamera von Thomas Frischhut nicht zu überzeugen, zeigt sich dann ein wenig irrlichternd. Dazu hat der Film auch schwächere Passagen, etwa einen wenig gehaltvollen Auftritt von Neumeiers Cousin vor dem Elternhaus des Ersteren.

Eine zarte Musikspur und der dezent eigenwillige Off-Kommentar von Sprecherin Stella Hilb runden den kundigen, facettenreichen Film ab. Punktuell hätte dieser zwar mehr Vertiefung vertragen – etwa wenn es um Neumeiers Anfänge in Hamburg geht -, gibt insgesamt aber einen schönen Einblick in ein von tiefer Menschlichkeit getragenes Lebenswerk.