Jahr für Jahr geben sich in einem Schweizer Provinzstädtchen Weltstars die Klinke in die Hand. Eine Dokumentation zeichnet die Geschichte des berühmten Jazz-Festivals nach – und entschlüsselt dessen Erfolgsgeheimnis.
Am 4. Dezember 1971 feuerte ein verrückter Zuschauer während eines Frank Zappa-Auftritts seine Leuchtpistole auf das hölzerne Dach des Konzertsaales ab. Augenblicklich brannte das Kasino im schweizerischen Montreux lichterloh. Das surreale nächtliche Flammenmeer am Ufer des Genfer Sees inspirierte die Band Deep Purple, die dort am kommenden Abend spielen sollte, zu einem der berühmtesten Rocksongs aller Zeiten: “Smoke on the Water”.
Aber eigentlich steht der Name Montreux ja weniger für Rock-Events als vielmehr für jene einzigartige Jazz-Kultur, die hier alljährlich zelebriert wird. Der Brite Oliver Murray, bekannt für seine einfühlsamen Porträts über Persönlichkeiten der Pophistorie, taucht mit seinem Dokumentarfilm “They all came out to Montreux. Wie die Schweizer Riviera zur großen Bühne wurde”, tief ein in die bewegte Geschichte des Festivals. Zu sehen ist die Doku am 6. August auf Arte oder in der Arte-Mediathek. Weltweit einzigartig sind die Konzerte in Montreux, weil trotz der Auftritte großer Berühmtheiten eine gewisse Nähe zu den Künstlern möglich ist. Das Festival ist so auch ein Ort der Begegnung der Kulturen.
Gegründet wurde es 1967 von Claude Nobs, einem Jazz-Aficionado, der in Basel eine Ausbildung zum Koch absolviert hatte und daraufhin eine Stelle im Fremdenverkehrsbüro eines Provinzstädtchens in der französischen Schweiz mit kaum 20.000 Einwohnern annahm. Sein kühner Vorschlag, das Image dieses verschlafenen Ortes mit einem Musikfestival aufzupolieren, stieß auf offene Ohren. Also machte der damals 31-jährige Nobs sich ganz naiv auf nach New York. Doch bei Atlantic Records – einem zentralen Impulsgeber für die Entwicklung und Verbreitung von Jazz weltweit – wollte man ihn ohne Termin nicht zum Chef vorlassen. Glücklicherweise stand aber eine Bürotür offen. Und so erkannte Nesuhi Ertegün – der legendäre Mitbegründer des Lables – den Akzent von Claude Nobs wieder, der ihn an seine Kindheit in der Schweiz erinnerte. Also sagte er “Grüezi”, und das Gespräch war im Gang.
Ein Musikfestival in Montreux? Einem Ferienort für “ältere englische Damen im Ruhestand”? Nun ja, Nesuhi Ertegüns Name steht nicht zufällig für zahlreiche Innovationen in der Branche. So erkannte der Plattenmanager rasch die Relevanz eines Brückenkopfes für Jazz in Europa. Es war der Beginn einer wunderbaren musikalischen Freundschaft zwischen amerikanischen Ausnahmekünstlern und der Schweiz. Da die Hotels in Montreux Ende Juli gähnenden Leerstand hatten, erwies sich die Gründung eines anspruchsvollen Festivals als Win-Win-Situation für Wirtschaft und Kultur.
In seinem Film zeigt Oliver Murray Mitschnitte zahlreicher Auftritte von Berühmtheiten, darunter Ella Fitzgerald, Aretha Franklin und Miles Davis. Für sich genommen sind solche Konzertaufzeichnungen eigentlich nichts Besonderes. Doch die erlesenen Archivfilme, die in “They all came out to Montreux” zu sehen sind, haben ein Alleinstellungsmerkmal. Es ist jene einzigartigen Atmosphäre, die Claude Nobs für angereiste Musiker in der schweizerischen Idylle schuf.
Befreit vom kommerziellen Druck einer konventionellen Konzert-Tour, liefen die Künstlerinnen und Künstler in einer Atmosphäre der Entspannung und der Gastfreundschaft regelmäßig zur Hochform auf. Da greift beispielsweise Nina Simone 1968 in die Tasten, im Hintergrund ist der von Bergen eingefasste Genfer See zu sehen. Aus ihrem virtuosen Synkopieren einer Melodie wird plötzlich “The Sound of Silence” von Simon & Garfunkel heraushörbar. Wer dabei keine Träne verdrückt, ist nicht von dieser Welt.
Bei solchen wahrhaft magischen Momente kann der Dokumentarfilm aus dem Vollen schöpfen. Claude Nobs war nämlich nicht nur ein geschäftstüchtiger Organisator, sondern auch ein passionierter Sammler, nicht nur von Vinyl-Schallplatten und sonstigen Tonträgern. Sein Archiv umfasst auch mehr als 5000 Stunden Videomitschnitte von Konzerten, realisiert mit einem Equipment, das jeweils State of the Art war. Diese Kollektion, die als wichtigstes audiovisuelles Zeugnis der Jazz-, Blues- und Rockmusik gilt, ist offenbar sogar umfangreicher als das Archiv der BBC oder vergleichbarer Institutionen. Als erste audiovisuelle Sammlung überhaupt wurde Nobs’ Kollektion 2013 von der Unesco in das Weltdokumentenerbe-Register aufgenommen.
Diese Synergie zwischen Technik, Kunst und Gastfreundschaft wird im Film vielstimmig rekonstruiert. Die zu Wort kommenden Protagonisten sind das Who is Who der Musikbranche. Da geht ein gewisser Keith Richards von den Rolling Stones neben anderen prominenten Musikern förmlich unter. Das ist aber auch kein Zufall. Denn um den visuellen Gesamteindruck homogen zu gestalten, verzichtet Murray auf Interviews mit “sprechenden Köpfen”. Stattdessen sind die meisten Zeitzeugen nur auf der Tonspur in Audiointerviews hörbar.
Der Film erinnert aber auch daran, dass die spießige Schweizer Provinzgesellschaft dem exzentrischen Musikliebhaber durchaus ein paar Steine in den Weg legte. So wurde Nobs eines Tages um 1973 herum von zwei humorlosen Schweizer Kantonspolizisten verhaftet. Begründung: Seine Liebhaber waren jünger als 20 Jahre alt. Homosexualität war in der Schweiz zwar nicht mehr strafbar, aber stärker tabuisiert als in anderen europäischen Ländern. Noch 1991 wurde Nobs in einem – eigentlich überaus wohlwollenden – Kurzporträt des Schweizer Fernsehens, um ihn in das übliche Klischee einzuordnen, überflüssigerweise als “55-jähriger Junggeselle” bezeichnet.
Im Dezember 2013 fiel Nobs nach einem Ski-Unfall ins Koma, aus dem er nicht mehr erwachte. Aber die Musik, die er protegierte, lebt weiter. Das Porträt dieses Enthusiasten verknüpft Murray mit chronologisch gestaffelten Rückblicken auf die Highlights aus über 50 Jahren. Statt clipartiger Aneinanderreihung flüchtiger Momente verweilt der Film immer wieder bei einzelnen Konzerten, in die man sich hineinhören kann. Zahlreiche Backstage-Eindrücke zeigen Musiker von einer ganz anderen Seite. “Für mich”, sagt der Musikproduzent Quincy Jones, mit dem Nobs kooperierte, “ist das Montreux-Festival der Rolls Royce unter den Festivals”. Und so ist “They all came out to Montreux” auch ein Rolls Royce unter den Musikfilmen.