In die weichen, bunten Sandsteinblöcke des armenischen Hochlands geschlagen, gehören sogenannte Kreuzsteine (Chatsch’kare) seit der Spätantike fest zur armenischen Kultur. Egal ob kindlich einfach oder mit unfassbarer Meisterschaft gefertigt wie etwa an der Gregor-der-Erleuchter-Kirche im Kloster Goschavankh: Chatsch’kare sind Andachtssteine; Sinnbild der christlichen Hoffnung; Mahnmale für andersgläubige Invasoren; Beschützer von Kirchen, Weiden und Fluren – und erst in zweiter Instanz auch Grabsteine für Einzelpersonen oder Familien.
Chatsch’kare sind den Armeniern heilig – wohl auch das ein Grund für Nachbarvölker, viele dieser Identitätszeichen auf ihrem Gebiet auszutilgen. Kreuzsteine werden von älteren armenischen Frauen geküsst, von Männern ehrfurchtsvoll berührt. Ihnen allen zu eigen ist das Kreuz als zentrale Figur, meist von reichen Ornamenten umgeben: Flechtwerk, geometrisch oder floral; oft Oktogone mit ihrer Zahlensymbolik von Anfang, Ende und Neubeginn.
Es gibt aber auch Chatsch’kare, die ganze Geschichten erzählen: etwa der “All-Erlöser-Kreuzstein” (armenisch Amenaphrkitsch’) von 1273 im Kloster Haghbat. Lebendige Porträts der Zwölf Apostel umrahmen dort die zentrale Kreuzigungsszene. Oder der schwarze Kreuzstein von Meister Trdat in der Muttergotteskirche von Sevan. Das Werk aus dem 17. Jahrhundert zeigt die Kreuzigung mit zwei flehenden Kirchendienern zu Füßen des Kreuzes; darunter Christus beim Jüngsten Gericht, der Adam und Eva den Arm zur Rettung reicht.
Die größte Ansammlung von Kreuzsteinen aus dem 10. bis 17. Jahrhundert befindet sich in Noratus, einer einstigen Fürstenresidenz am Südufer des Sevansees mit Blick auf den Kleinen Kaukasus. Es heißt, nicht zwei Kreuzsteine im Land seien sich gleich. In ihnen lebt die Kunst der toten Meister weiter – und die Selbstvergewisserung und Botschaft eines bedrängten Volkes von Wehrhaftigkeit, Frömmigkeit und Andacht.