Vor 30 Jahren hat Pastor Bernd Siggelkow das christliche Kinder- und Jugendhilfswerk “Die Arche” gegründet, das sich gegen Armut engagiert. Die Einrichtung bietet Freizeitbeschäftigung und Schulbetreuung an 34 Standorten in Deutschland, Polen und der Schweiz. Für sein Werk ist Siggelkow mit dem Bundesverdienstkreuz und dem Bambi ausgezeichnet worden.
Herr Siggelkow, wenn Sie auf 30 Jahre Arche zurückblicken, was würden Sie als größten Erfolg des Vereins werten?
Wir haben Menschen gesellschaftsfähig gemacht. Viele ehemalige Arche-Kinder arbeiten heute in der Arche – als Erzieher und Erzieherin. Und wir haben Biografien verändert, Menschen eine Chance gegeben haben, die in dieser Gesellschaft sehr wenige davon hatten.
Gab es denn Lebenswege in diesen 30 Jahren, die Sie besonders berührt haben?
Auf der einen Seite sind da die Misserfolge. Wir haben auch Kinder beerdigen müssen. Letztes Jahr im Dezember hat ein Vater in Meißen sich und seine drei Kinder umgebracht. Das war eine Arche-Familie. So etwas ist schrecklich. Oder beim Amoklauf in München 2016; da wurden sechs Teenager erschossen, davon drei Arche-Jugendliche.
30 Jahre “Die Arche”: Es gibt auch schöne Geschichten
Aber es gibt eben auch die schönen Geschichten. Letztes Jahr schrieb mir ein junger Mann bei Instagram: Danke, dass du meine Kindheit gerettet hast. Drei Wochen später, zur Eröffnung einer Arche in seiner Nachbarschaft, brachte er seine achtjährige Tochter vorbei. Seitdem kommt sie regelmäßig. Vergangene Woche sagte sie: Hey Bernd, ich habe in Mathe eine Eins geschrieben. Der Vater hatte als Schüler Probleme in dem Fach. Es ist schön, wenn man erkennt, dass man Generationen verändern kann.
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Was macht die Arche besonders, wo unterscheidet sie sich von anderen Angeboten?
Ich habe damals auf dem Spielplatz angefangen und mich um die Kinder gekümmert, die ohne einen Erwachsenen da waren, denen vor allem eines gefehlt hat: ein Papa oder eine Mama. Eines Tages stand ein kleines Mädchen an der Schaukel. Sie nahm ihren ganzen Mut zusammen und fragte mich: Bernd, willst du mein Papa sein? Wenn Sie das Geheimnis der Arche verstehen wollen, dann anhand dieser Geschichte. Die Mitarbeiter der Arche sind keine Pädagogen oder Erzieher in den Augen der Kinder, sondern vielmehr Väter, Mütter, Freunde.
Das ist eine große Verantwortung, die Sie tragen.
Arche-Mitarbeiter sind Menschen, die über viele Jahre ins Kind investieren. Wenn heute ein neuer Mitarbeiter in die Arche kommt, dann wird jedes der 11.000 Kinder die gleiche Frage stellen: Wie lange bleibst du? Unsere Kinder haben einfach keine konstanten Bezugspersonen mehr. Ihre Konstante im Leben ist die Arche.
Inwiefern hat sich das Verständnis von sozialer Verantwortung in Kirche, Politik und Zivilgesellschaft seit der Gründung der Arche verändert?
Kinder haben immer weniger Lobby in unserem Land. Es kann doch nicht sein, dass es immer noch keine dreistellige Kinderschutz-Telefonnummer gibt, die sich ein Kind merken kann, kostenlos und immer erreichbar. Alle quatschen darüber, dass Kinder die Zukunft der Gesellschaft sind, aber wir schaffen es nicht mal in der Gegenwart, in sie zu investieren.
Bernd Siggelkow nach 30 Jahren Arche: Nichts ist besser geworden
Ich mache diese Arbeit seit 30 Jahren, habe gesellschaftliche Veränderungen erlebt. Besser geworden ist nichts, sondern herausfordernder. Immer mehr Jugendliche schaffen keinen Bildungsabschluss. 30 Prozent aller Erstklässler schaffen nicht mal die erste Klasse. Wenn die einzige Perspektive von Fünftklässlern ist, als Erwachsene Bürgergeld zu beziehen, dann haben Politik, Zivilgesellschaft und auch Kirche versagt.
Warum hat diese vulnerable Gruppe einfach keine Lobby Ihrer Meinung nach?
Wir sind einfach ein kinderunfreundliches Land. Wir sind die drittgrößte Wirtschaftsmacht der Welt, eines der reichsten Länder dieser Welt und wir leisten uns arme Kinder. Der Europarat hat im letzten Jahr Deutschland angemahnt, zu langsam in der Bekämpfung der Kinderarmut zu sein. Dazu kommt noch, dass Kinder bei uns ein unkalkulierbares Armutsrisiko sind, was zur Folge hat, dass es einen Geburtenrückgang gibt und damit auch fehlende Wählerstimmen. Kinderrechte sind nicht im Grundgesetz verankert.
Wo sehen Sie konkreten politischen Reformbedarf?
Ich kämpfe seit 30 Jahren gegen Kinderarmut und Ausgrenzung und merke, dass es der Politik nicht gelingt, auf meine Lösungsvorschläge zu reagieren. Ich werde 2026 selbst für das Berliner Abgeordnetenhaus kandidieren (für die CDU, Anmerkung der Redaktion), weil ich möchte, dass endlich politische Rahmenbedingungen geschaffen werden.
Was würden Sie ändern?
Wir brauchen aber Rahmenbedingungen, die Kindern ein gutes Aufwachsen ermöglichen und ein Bildungssystem, dass sie zu Gewinnern und nicht zu Verlierern macht. Kinder sind nicht alleine arm, sondern aufgrund ihrer Familienverhältnisse. Besonders betroffen sind hier Alleinerziehende. Viele müssen trotz Arbeit aufstocken, weil das Gehalt nicht reicht. Dieses Geld vom Jobcenter sollte lieber automatisch über den Arbeitgeber ausgezahlt werden. Das gibt Perspektive und Würde, die den Menschen fehlt, denn es ist nicht immer Geld, sondern es ist eben auch das Ansehen in der Gesellschaft. Gelingt es uns nicht existenzsichernde Arbeitsplätze zu schaffen, dann werden wir es auch nicht schaffen, die Kinderarmut zu bekämpfen.

Mit Blick auf die Fluchtbewegungen nach Europa – ist das eine Gruppe, die besonders gefährdet ist?
Also gefährdet ist letztendlich ein Land, das Menschen aufnimmt, ihnen Sicherheit garantiert, aber diese gar nicht gewährleisten kann. Uns fehlt die Infrastruktur, daher schaffen wir es nicht, dass aus Migration Integration wird: Fehlender Wohnraum, keine Werte- oder Demokratieerziehung, zu wenig Deutschkurse. Sprache ist Integration aber wir erwarten nicht einmal mehr, dass die Menschen die deutsche Sprache lernen. Unsere Politik fördert geradezu das Entstehen von Parallelgesellschaften.
Selbst wenn die Bekämpfung der Kinderarmut in Deutschland keine Erfolgsgeschichte ist, ist die Geschichte der Arche ist aber eine.
Erstmal ist der Erfolg der Arche der Misserfolg von Gesellschaft und Politik. Deswegen bin ich auch nicht stolz, 30 Jahre Arche zu feiern. Im Prinzip feiern wir auf den Köpfen von armen Menschen den Kampf gegen Kinderarmut, den ich nicht gewonnen habe. Ich hätte lieber die Arche geschlossen, anstatt weitere zu öffnen.
Wünschenswert wäre also ein Deutschland ohne Archen oder anders: Was wäre Ihr Wunsch für das 50-jährige Jubiläum der Arche?
Da haben Sie vollkommen recht. Aber der Kampf gegen Kinderarmut wird mindestens in den nächsten 50 Jahren nicht gewonnen werden. Es gibt kein Konzept und keine Politik, die Kinder in den Fokus der Gesellschaft stellt. Ich habe mal den finnischen Bildungsminister gefragt, was das Geheimnis ihres guten Bildungssystem ist. Ein Satz ist mir hängen geblieben: Kinder werden in Finnland wie Könige behandelt. Wenn wir das hinkriegen, dass Kinder sich in unserem Land wie Könige und Königinnen fühlen, dann werden wir es irgendwann auch schaffen, Kinderarmut zu bekämpfen.
