Antisemitische Vorfälle in Niedersachsen steigen deutlich an

Die Zahl der judenfeindlichen Vorfälle in Niedersachsen hat nach Angaben der Informationsstelle Antisemitismus (Rias) im vergangenen Jahr um mehr als 60 Prozent zugenommen. Die landesweite Recherchestelle dokumentiert in ihrem Jahresbericht 2023 insgesamt 331 Fälle und damit mehr als je zuvor seit ihrem Bestehen. Insbesondere nach dem Überfall der Terrororganisation Hamas auf Israel am 7. Oktober habe es einen sprunghaften Anstieg gegeben, sagte die Rias-Leiterin Katarzyna Miszkiel-Deppe am Donnerstag in Hannover. Jüdische Vertreterinnen und Vertreter sowie der Antisemitismus-Beauftragte des Landes, Gerhard Wegner, äußerten sich besorgt und forderten Konsequenzen.

Zu den Vorfällen, die der Recherchestelle gemeldet wurden, gehören unter anderem Angriffe, Bedrohungen und Sachbeschädigungen. Die Dunkelziffer dürfte noch weitaus höher liegen, hieß es. Auch ein Vorfall extremer Gewalt wurde nach dem Jahresbericht 2023 bekannt. Als solche Vorfälle gelten physische Angriffe oder Anschläge, die den Verlust von Menschenleben zur Folge haben können oder schwere Körperverletzungen darstellen. Insgesamt dokumentierte die Stelle elf Angriffe gegenüber, die Mehrheit davon nach dem 7. Oktober. Im Jahr 2022 gab es noch drei dieser Vorfälle. Bei fast 60 Prozent der Fälle von Judenfeindlichkeit habe israelbezogener Antisemitismus eine Rolle gespielt.

„Jüdische Menschen sind täglich auch in Niedersachsen Anfeindungen und Bedrohungen ausgesetzt und werden weiterhin für Entwicklungen verantwortlich gemacht, mit denen sie nichts zu tun haben, wie beispielsweise für die Handlungen des Staates Israel“, sagte Miszkiel-Deppe. Das Spektrum der weltanschaulichen Hintergründe für den Judenhass sei darüber hinaus groß. Es sei wichtig, dies aufzuzeigen, um dagegen angehen zu können. Antisemitismus könne Jüdinnen und Juden in allen gesellschaftlichen Schichten und an fast allen Orten begegnen.

Die Vizepräsidentin des Landesverbandes der jüdischen Gemeinden von Niedersachsen, Marina Jalowaja, sagte angesichts der Entwicklungen: „Die Normalisierung der rechten Ideologie der Menschenfeindlichkeit macht mir große Sorgen.“ Antisemitische Verschwörungstheorien kämen auch von links und aus der Mitte der Gesellschaft ebenso wie aus den Religionen. „Antisemitismus bedroht nicht nur Menschen jüdischen Glaubens, er bedroht uns alle.“

Der Antisemitismus-Beauftragte Wegner forderte deutlich mehr zivilgesellschaftliche Solidarität gegen Hass und Hetze. „Jeden antisemitischen Angriff, jede Attacke auf das Lebensrecht Israels, gilt es konsequent zu verfolgen und sich ausbreitenden Verschwörungsmythen über die angebliche Macht Israels entgegenzutreten.“

Laut dem Rias-Bericht war die am häufigsten dokumentierte Form von Antisemitismus im Jahr 2023 israelbezogener Antisemitismus, gefolgt vom sogenannten Post-Schoa-Antisemitismus, der sich unter anderem in der Relativierung des Holocaust oder Sachbeschädigungen an Gedenkstätten ausdrückt. Häufig spielte auch „antisemitisches Othering“ eine Rolle, ein Verhalten, das Jüdinnen und Juden eine Zugehörigkeit abspricht.

Wie sich das auswirkt, schilderte die frühere Präsidentin des Verbandes Jüdischer Studierender Nord, Esther Belgorodski. „Ich bin in Deutschland geboren, ich bin hier aufgewachsen und kenne kein anderes Land so wie Deutschland“, sagte sie. Jetzt fürchte sie um ihre Sicherheit, wenn sie zum Beispiel mit dem Davidstern um den Hals aus dem Haus gehe. „Denn auf offener Straße werde ich zur Projektionsfläche von Hass.“

Die Recherche- und Informationsstelle Antisemitismus in Niedersachsen dokumentiert alle Formen von antisemitischen Vorfällen, auch solche, die keinen Straftatbestand erfüllen und die nicht zur Anzeige gebracht werden. Sie wird von der Amadeu Antonio Stiftung getragen.