Anstifter zur Sehnsucht

Peter Schicketanz, Gründungsdirektor der Evangelischen Ausbildungsstätte für Gemeindepädagogik, ist gestorben.Frank Otto ehemaliger Dozent an der Evangelischen Ausbildungsstätte für Gemeindepädagogik, mit einem Nachruf.

Peter Schicketanz, Gründungsdirektor der Evangelischen Ausbildungsstätte für Gemeindepädagogik, ist gestorben.

Von Frank Otto

Noch 11 Tage vor seinem Tod hat er fünf Stunden ohne Pause an einem Skatturnier teilgenommen. Zwei seiner Söhne waren dabei. Sie lernten das Spiel zum Teil bevor sie multiplizieren konnten. Bis zum Schluss blieb er klar im Kopf. Am 17. Januar ist Peter Schicketanz im Beisein seiner Söhne und Schwiegertöchter friedlich eingeschlafen.

Er war sehr viel mehr als ein leidenschaftlicher Skatspieler. Er war ein offener, dem Leben zugewandter, rundum angenehmer Mensch. Er nahm die Visionen und Zumutungen der Bibel ernst. Wenn Fröbel meint, „Erziehung ist Beispiel und Liebe, sonst nichts“, dann verkörperte das Peter Schicketanz wie kaum ein anderer. Er wurde so vielen über seine Familie hinaus zu einem Anstifter zur Sehnsucht zu einem erfüllten Leben, welches vor dem eigenen Gewissen und Gott Bestand hat. Er wollte eine Kirche, die sich nicht zu sehr mit den Ansprüchen ihrer Botschaft verheddert.

Geboren 1931 in Görlitz, aufgewachsen bis 1945 in Friedland (Sudetenland), wo sein Vater eine Eisenwarenhandlung betrieb, haben ihn die Kriegserfahrung; die Junge Gemeinde und eine Kinderlähmung im 18. Lebensjahr, die ihm fortan Gehhilfen aufnötigte, zur Theologie gebracht. Er studierte in Halle (Saale) und Basel (unter anderem bei Karl Barth), promovierte noch vor dem Mauerbau an der kirchlichen Hochschule in Berlin-West über Philipp Jakob Spener und blieb der Pietismusforschung und später der Franckeschen Stiftung immer verbunden.

Als Oberkonsistorialrat und Referent des Bischofs in Magdeburg war er in den 1970er Jahren in einem Ausschuss des Bundes der Evangelischen Kirchen der DDR, der an einer Ausbildungsreform für kirchliche Berufe arbeitete. In einer kleiner werdenden Kirche sollten alle kirchlichen Berufe in die Verkündigung einbezogen werden. Es entstand das Konzept für einen neuen Beruf, der der Gemeindepädagogin/des Gemeindepädagogen. Anders als bei Theologen, wurde das Studium der alten Sprachen durch die Humanwissenschaften ersetzt und der praktischen Theologie mehr Platz eingeräumt. Nach dem ersten gemeindepädagogischen Examen folgte ein zweijähriger Vorbereitungsdienst, welcher mit einem zweiten, dann theologischen Examen, abschloss und einen Dienst, möglichst gleichberechtigt zum Theologen anstrebte.

Er ließ sich locken und schieben

Als die Bundessynode der Evangelischen Kirchen der DDR den Weg für diese Ausbildung frei machte und ein Gründungsrektor für die Evangelische Ausbildungsstätte für Gemeindepädagogik in Potsdam gesucht wurde, ließ sich Peter Schicktetanz 1979 in diese Arbeit locken und ein wenig auch schieben. Er sah die Notwendigkeit der Reform und als es niemand machen wollte, fiel die Wahl auf ihn. „Ich habe den Bumerang mit los geworfen, dann fiel er auf mich zurück“, sagte er einmal. Für diesen neuen Beruf und die Ausbildung sollte sich Peter Schicketanz als absoluter Glücksfall erweisen.

Ich wurde 1982 Dozent an der Evangelischen Ausbildungsstätte für Gemeindepädagogik und lernte, aus der Volksbildung und damit einem System kommend, welches auf Kontrolle und Misstrauen angelegt war, plötzlich grenzenloses Vertrauen, Mitverantwortung und Partnerschaftlichkeit kennen. Es gab keine Noten, keine Anwesenheitspflicht, dafür viele gute und manchmal auch anstrengende, immer aber ernsthafte Verbindlichkeitsdebatten. Studierende waren grundsätzlich von der Eignungstagung bis zum Examen paritätisch in den Konferenzen an allen Entscheidungen beteiligt. Gründungsrektor Schicketanz wusste, Verantwortung lernt man nur durch Verantwortungsübernahme, und die musste in der Ausbildung von Anfang an eingeübt werden. Genauso wichtig waren die Gruppenprozesse in der sich Lehr- und Lerngemeinschaft nennenden Ausbildungsstätte, weil man eben auch das Arbeiten mit Gruppen nur in Gruppen lernen kann.

Man nannte ihn „Schicke“

Peter Schicketanz, oft liebevoll „Schicke“ genannt, verkörperte mit seiner Person die partnerschaftliche und gemeinschaftsorientierte Grundintention der Ausbildung, die selbstverständlich die Zeit außerhalb des Unterrichts mit einbezog. Verschmitzt, nachdenklich, anregend, streitbar, lernfähig, klug, liebevoll und freundlich, so durften ihn viele kennenlernen. Er wurde so zum Anstifter der Sehnsucht, der seinen guten Samen in so viele Menschen legte, wohl wissend, dass der das Wort Gottes Säende immer wieder für Neues und Überraschungen gerüstet sein muss. Eines seiner Lieblingszitate war der bekannte Spruch von Antoine de SaintExupéry: „Wenn du ein Schiff bauen willst, so trommle nicht Männer zusammen, um Holz zu beschaffen, Werkzeuge vorzubereiten, Aufgaben zu vergeben und Arbeit einzuteilen, sondern lehre ihnen die Sehnsucht nach dem weiten, endlosen Meer.“ Er übersetzte das so, dass „im Wind“ des Evangeliums Sehnsucht geweckt wird.

So ließen sich viele Studierende und Kollegen von ihm inspirieren und mit uns entstand etwas Neues in dieser Gesellschaft (DDR) und in dieser Kirche. An der Überzeugung, dass Kirche ohne Visionen blutleer sei, hielt er über die Friedliche Revolution hinaus fest. Er schrieb uns am Ende seines Arbeitslebens in seiner Abschiedsrede ins Stammbuch: „Wir haben das Potential zu sagen, wir sind noch nicht, was wir sein werden (1. Johannes 3,2). Das Evangelium erschöpft sich niemals in der gegenwärtigen Gestalt des Gemeindelebens oder irgendeines Staates. Die Zukunft ist niemals nur Verlängerung der Vergangenheit, so sehr konservative Kräfte uns das immer wieder weismachen wollen. Angst und Hoffnung vor der Zukunft sind keine überflüssigen Zutaten des Lebens, sondern Triebkräfte unseres Seins. Also sind Utopien nötig, Visionen sind gefragt. Wer auf Hoffnung sät, wird entdecken, dass Neues wächst – das Bild hinkt, denn normalerweise sät man das, was man dann auch ernten will. Wir aber säen mit dem Wort Gottes, und dieses wächst stets anders als die Sämänner und Säfrauen vorher meinen. In der Geschichte Gottes mit den Menschen ist es eben anders als in der Natur. Das gesäte Wort Gottes hat bisher nie dasselbe in der Geschichte hervorgebracht, sondern immer wieder für Überraschungen gesorgt.“

Eine kühne, vielen eine zu kühne Vision

Die Gemeindepädagogik war so eine Überraschung und hat von Anfang an die emanzipatorische Erneuerung von Kirche und Gesellschaft in den Blick genommen. Erstmalig sollte es neben dem Gemeindevorsteher (Pfarrer) einen gleichberechtigten Beruf daneben geben. Eine kühne, vielen eine zu kühne Vision. 1998 wurde die Gemeindpädagogik zu einem Studiengang an der Evangelischen Hochschule Berlin. Eine Westausdehnung der in der DDR geschaffenen Vision, hin zu einem neuen gesamtdeutschen neuen kirchlichen Beruf besonderer Prägung, war (noch) nicht möglich, wiewohl sich das einige Freunde in westlichen Fachhochschulen und Kirchen wünschten. Der Beruf des Gemeindepädagogen dieser Prägung hat nur, und das auch ganz unterschiedlich, in einigen ehemaligen evangelischen Kirchen der DDR Eingang in deren Pfarrerdienstgesetze gefunden.

Peter Schicketanz arbeitete zuletzt noch an einem Buch über die Geschichte der Gemeindepädagogik, welches gut zum geplanten 40. Jahrestag der Gründung der Ausbildungsstätte 2019 gepasst hätte. Es wird wohl unvollendet bleiben.

Er fragte sich und uns bis ans Ende seines Lebens, wo ist heute der eschatologische Zug eines besseren Morgen, was sind heute unsere Visionen? Er fragte uns, sind wir als Kirche die Petersilie oder das Salz der Erde? Er litt darunter, dass sich die Kirche scheinbar mit der Garnierung und ein klein wenig Geschmacksverbesserung zufrieden gibt, statt sich stärker einzumischen in die uns alle berührenden Fragen der Zeit. Er mahnte bis zum Schluss, sich den Herausforderungen und Fragen einer modernen Konsum- und Wettbewerbsgesellschaft zu stellen und Antworten im Lichte der Bibel zu suchen.

Heute nennen sich viel Gemeindepädagogen der Einfachheit oder der Eitelkeit wegen Pfarrer. Sie sollten selbstbewusster sein, sich möglicherweise mehr an ihrem doch fast von allen verehrten „Schicke“ orientieren. Die Probleme der Kirche heute sind durchaus vergleichbar mit denen der DDR-Kirchen in den 1970er Jahren, weniger Mitglieder, Fachkräftemangel, Verschleiß der Verbliebenen in vielen Dörfern, rückgehende Finanzen, unklare Verkündigung. Hinzu gekommen ist auch noch eine für manche zu große Staatsnähe.

Peter Schicketanz würde sagen, wir brauchen in einer komplizierter gewordenen Zeit Verkündiger, die in der Ausbildung, so wie in der Evangelischen Ausbildungsstätte für Gemeindepädagogik, mitmenschliche Verantwortung gelernt haben, Visionen haben und mit ihrer Person innerhalb und außerhalb der Kirche Anstifter zur Sehnsucht sind.

Er würdigte mehrfach die Bausoldaten

Wenn man Peter Schicketanz würdigt, darf nicht unerwähnt bleiben, dass wir ihm aus seiner Tätigkeit als Berater und Begleiter von Wehr- und Waffendienstverweigerern in der DDR zusammen mit Bernd Eisenfeld eine umfassende Darstellung dieses Teils unserer Geschichte verdanken: Bausoldaten in der DDR, Die »Zusammenführung feindlich-negativer Kräfte« in der NVA; Ch. Links-Verlag, 2011. Auch dies war ein Bereich, dem er sich als Dorfpfarrer, Oberkonsistorialrat und Dozent immer verbunden fühlte. Er sah, wie auch die letzte Synode der DDR-Kirchen, in der Wehrdienstverweigerung das deutlichere Friedenszeugnis und würdigte mehrfach die Bausoldaten, die mir ihren Gewissenentscheidungen oft berufliche Nachteile und Drangsalierungen in Kauf nahmen und stand ihnen vielfach seelsorgerisch zur Seite.

Für mich war Peter Schicketanz einer der ganz wichtigen Menschen in meinem Leben. Von seinem Sein, von seiner Art, alle Menschen ernst zu nehmen, ihnen wertschätzend zu begegnen und immer auch selbst Lernender zu bleiben, habe ich mich als Dozent bis ans Ende meines Berufslebens leiten lassen. In einem von ihm begründeten Gesprächskreis, den einige immer noch den „Schickekreis“ nennen, fehlt er schon lange. Nachlassende physische Kräfte machten ihm zu schaffen. Im Kopf blieb er klar und hätte uns noch viel zu sagen. Ich erinnere mich aber auch gern an den leidenschaftlichen Skatspieler. Wir spielten bei Dozentenklausuren in Rüstzeitheimen oft bis tief in die Nacht hinein.

Ich verneige mich vor einem großen Anreger, einem warmherzigen Menschen. ja, hier passt es: einem Vorbild, dem ich und ich weiß auch nahezu alle, die ihm begegnen durften, sehr viel verdanken.

Peter Schicketanz findet an der Seite seiner ersten Frau Gisela in Geltow seine letzte Ruhe. Er hinterlässt vier Söhne, vier Schwiegertöchter, 13 Enkel und 3 Urenkel. Zwei weitere Urenkel sind unterwegs. Er wird in ihnen und in uns weiterleben.

Frank Otto war von 1982 bis 1997 Dozent an der Evangelischen Ausbildungsstätte für Gemeindepädagogik, danach als Fachbereichsleiter einer Fachschule für Sozialwesen verantwortlich für die dortige ErzieherInnenausbildung

Die Trauerfeier ist am 26. Januar um 11 Uhr in der Geltower Kirche, Schwielowsee.