„An Inspector Calls“ – aufrüttelndes Drama bei One

Gelungene Adaption von J.B. Priestleys 1945 uraufgeführtem Theaterstück um eine englische Industriellen-Familie, die an einem Abend 1912 von einem mysteriösen Inspektor aufgesucht und mit einer alten Schuld konfrontiert wird.

In Zusammenarbeit mit filmdienst.de und der Katholischen Filmkommission gibt die KNA Tipps zu besonderen TV-Filmen:

Die jüngste Fernseh-Adaption von J.B. Priestleys 1945 uraufgeführtem Theaterstück von der Irin Aisling Walsh aus dem Jahr 2015. Darin wird die englische Industriellen-Familie Birling an einem Abend im April 1912 von einem mysteriösen Inspektor (David Thewlis) aufgesucht. Dieser konfrontiert Vater Arthur (Ken Stott), Mutter Sybil (Miranda Richardson), den erwachsenen Sohn Eric (Finn Cole) und Tochter Sheila (Chloe Pirrie) sowie deren Verlobten Gerald Croft (Kyle Soller) mit dem Suizid einer jungen Frau aus der Arbeiterschicht. Im Zuge der Befragung durch den ungebetenen Gast erweist sich, dass jeder von ihnen aus Ignoranz, Überheblichkeit oder Egoismus zum Elend der Toten beigetragen hat.

Der Film entfaltet sich nah an der Vorlage als Kammerspiel, nutzt aber außerdem die Möglichkeit der Rückblende, um auch der Figur des toten Mädchens Raum zu geben. Eine von einem versierten Schauspiel-Ensemble getragene, zeitlose Auseinandersetzung mit kollektiver Schuld, dem Mangel an sozialer Solidarität und persönlicher Verantwortung.

Wir leben nicht allein. Wir sind alle Teil eines Körpers. Wir sind füreinander verantwortlich. Und ich sage euch, dass bald eine Zeit kommen wird, in der die Menschen, falls sie diese Lektion nicht lernen, sie in Feuer und Blut und Leid gelehrt bekommen“: Mit diesen Worten verabschiedet sich der mysteriöse Inspektor Goole (David Thewlis) in dieser Fernseh-Verfilmung des gleichnamigen Theaterstücks von J.B. Priestley von der Unternehmer-Familie Birling und vom Publikum.

Angesiedelt ist der Stoff im Jahr 1912, Premiere feierte das Drama 1945 – nachdem die blutige Lektion von zwei Weltkriegen über Großbritannien und Europa hereingebrochen war. „An Inspector Calls“ blickte in die Zeit unmittelbar vor dem Ersten Weltkrieg zurück, um die Zeitgenossen, die gerade darangingen, nach dem Zweiten Weltkrieg ihre Gesellschaften neu aufzubauen, davor zu warnen, alte Fehler zu wiederholen.

Die Eingangssequenz der von Aisling Walsh inszenierten Adaption erinnert mit der Art und Weise, wie sie in den vornehmen Haushalt der Birlings einführt, ans Intro der Serie „Downton Abbey“ – wie als ironische Replik, denn was sich alsbald entfaltet, ist ein böses Menetekel für jene Klassengesellschaft, die in der Serie als nostalgische Projektion heraufbeschworen wird. J.B. Priestley ging es darum, den Mangel an sozialer Solidarität der Ober- mit der Arbeiterschicht anzuprangern, und er nutzte dazu eine dramaturgische Form, die sich ans populäre Krimi-Genre a la Agatha Christie anlehnt, im Grund aber ein waschechtes „Morality Play“ ist.

Am Anfang steht ein unaufgeklärter Todesfall; ein Inspektor sucht ein Haus auf, in dem die Verdächtigen versammelt sind, befragt alle und zieht am Ende vor versammelter Runde ein Fazit. Nur dass es sich hier bei dem Todesfall statt um Mord um den Selbstmord einer jungen Frau aus der Arbeiterschicht handelt und beim Täter, der gestellt werden muss, um eine kapitalistische Ausbeutungs-Maschinerie, in der die Mitglieder des Birling-Clans alle kleine Rädchen sind und auf die ein oder andere Weise dazu beitrugen, die junge Eva Smith erst ins soziale Aus und dann in den Tod zu treiben.

Ein reichlich konstruiert wirkender Plot, der gleichwohl in der Schärfe, mit der er von kollektiver Schuld und persönlicher Verantwortung erzählt, durchaus berührt – vor allem, weil die Figuren differenziert genug gezeichnet sind, um nicht nur exemplarische Vertreter ihrer Klasse zu sein.

In Großbritannien gehört „An Inspector Calls“ denn auch zum Klassiker-Repertoire. Nachdem das Stück erst in der Sowjetunion, dann bei Laurence Oliviers und Ralph Richardsons Old Vic Theatre Company in London Premiere gefeiert hatte, erntete es als „linker“ Stoff zwar teils harsche Kritiken, traf aber den veränderungswilligen Geist jener Zeit, in der Großbritannien erstmals eine „Labour“-Regierung an die Macht wählte. Es wurde bereits 1953 von Guy Hamilton verfilmt („Ein Inspektor kommt“) und genießt vor allem seit einer prägenden Inszenierung von Stephen Daldry in den 1990er-Jahren neues Ansehen.

Der von Helen Edmundson geschriebene und von Aisling Walsh inszenierte Fernsehfilm, der das Stück 2015 noch einmal einer „neuen Generation“ erschließen wollte (wie ein Feature im Bonusmaterial der deutschen DVD-Ausgabe nahelegt) entstand im Rahmen einer Reihe, mit der die BBC Klassiker der Midcentury-Literatur des 20. Jahrhunderts würdigte – wozu neben Priestleys Theaterstück u.a. auch die Romane „Cider mit Rosie“ von Laurie Lee und „The Go-Between“ von L.P. Hartley gehörten.

Der zentrale „production value“ dieser Reihe ist trotz üppiger Ausstattung und Kostüme vor allem die Wahl der Schauspieler, und so kommt auch in „An Inspector Calls“ ein exzellentes Ensemble zusammen: Ken Stott und Miranda Richardson verkörpern das Unternehmer-Ehepaar Birling, Chloe Pirrie und Finn Cole die (fast) erwachsenen Kinder, Kyle Soller den zukünftigen Ehemann der Tochter – allesamt Charaktere, mit denen man zu Beginn, wenn im Hause Birling die Verlobung der Tochter gefeiert wird, erst einmal sympathisiert.

Und sie bewahren auch, wenn nach und nach ihre Verstrickungen mit dem toten Mädchen offenbar werden, menschliches Format: keine veritablen Bösewichter wie die Ausbeuter und Menschenschinder bei Charles Dickens, sondern ganz normale Menschen, die sich jener Ignoranz und Selbstbezogenheit schuldig machen, die wahrscheinlich jeder und jede auch mitunter an sich selbst beobachten kann, und die befangen sind in den schichtspezifischen Vorurteilen ihrer Zeit. David Thewlis fungiert in der mysteriösen Rolle des Inspektors ihnen gegenüber sozusagen als veräußerlichtes Gewissen. Und auch wenn von Anfang an ziemlich voraussehbar ist, auf welche Enthüllungen dessen Befragungen hinauslaufen, sorgt der Film wie das Stück doch damit für Spannung, wie die einzelnen Mitglieder der Familie auf die Konfrontation mit ihrer Schuld reagieren.

Das Medium Film verschafft Regisseurin Aisling Walsh die Möglichkeit, auch die Figur der jungen Arbeiterin, um die sich alles dreht, nicht nur Gegenstand der Gespräche der Birlings und des Inspektors sein zu lassen; in Rückblenden, die in die ansonsten kammerspielartige Handlung eingeflochten sind, bekommt sie selbst durch die Schauspielerin Sophie Rundle Präsenz und eine Stimme – was die Adaption noch einen Touch melodramatischer macht als die Vorlage, aber durchaus in Priestleys Sinne sein dürfte, um die Zuschauer möglichst nachdrücklich zu sensibilisieren und aufzurütteln.