„Amazing Grace“ – viel mehr als ein Kirchenlied

Das Lied wurde zur Hymne der Bürgerrechtsbewegung der USA, Ex-Präsident Obama stimmt es überraschend bei einer Trauerfeier an. Jetzt wird der Text 250 Jahre alt.

Im Juni 2015 stimmt Präsident Barack Obama bei einer Trauerfeier für ermordete schwarze Kirchenmitglieder das Lied überraschend an
Im Juni 2015 stimmt Präsident Barack Obama bei einer Trauerfeier für ermordete schwarze Kirchenmitglieder das Lied überraschend anImago / Xinhua

„Amazing Grace“ ist ein Lied, das Menschen bewegt. Es geht um Demut, Stärke und Zuversicht. 250 Jahre nach seinem Erscheinen gelte es als „die bei weitem beliebteste Hymne aller Zeiten“, so befand jüngst die protestantische US-Zeitschrift Christianity Today. Die Geschichte des Songs ist so unwahrscheinlich wie das Leben seines Verfassers.

Vermutlich im Dezember 1772 hat der anglikanische Prediger John Newton den Liedtext in England geschrieben. Der britische Autor und Newton-Experte Steve Turner vermutet aufgrund überlieferter Predigten, dass es wohl am 1. Januar 1773 das erste Mal vorgetragen wurde – vor 250 Jahren.

Eine außerordentliche Gnade

Pastor wurde Newton erst spät in seinem Leben. Davor fuhr er zur See und half mit, versklavte Menschen von der afrikanischen Westküste nach Amerika zu verschleppen. Sein Lied erzählt von der „außerordentlichen Gnade“ Gottes, die er als Sünder selbst erfahren habe.

Und es ist viel mehr geworden als ein Kirchenlied. Das gilt besonders in den USA: „Amazing Grace“ fand seinen Weg von der protestantischen Erweckungsbewegung Anfang des 19. Jahrhunderts zur Bürgerrechtsbewegung der 1950er und 1960er Jahren, hin zu Johnny Cash, Judy Collins, Aretha Franklin, Mahalia Jackson und auch zur Amtseinführung von Joe Biden.

Und selbst zu Barack Obama. Der ehemalige US-Präsident rührte 2015 die Nation zu Tränen, als er bei einer Trauerfeier für ermordete schwarze Kirchenmitglieder unerwartet zu singen begann und die Gemeinde einstimmte: „Amazing Grace, how sweet the sound …“

Über eigenes Leben getextet

Die Übersetzung ist nicht einfach: „Amazing Grace“ wird häufig übertragen mit „erstaunliche Gnade“. Das Wort „amazing“ enthält aber mehr, gemeint ist umwerfende Gnade, unglaubliche Gnade, unerhörte Gnade, eine unverdient und in riesigem Maß ausgeschüttete Gnade. Diese habe „einen sündigen und hilflosen Menschen wie mich errettet“, heißt es weiter im Lied: „Einst war ich verloren, doch nun bin ich gefunden. Einst war ich blind, doch nun sehe ich.“ Die Ursprungs-Melodie ist nicht überliefert. Die heutige Version stammt aus dem Jahr 1835, aus dem USA-amerikanischen Gesangbuch „The Southern Harmony“.

Der 1725 in London geborene John Newton textete in „Amazing Grace“ über sein Leben: Er war als Teenager in die Fußstapfen seines Vaters getreten und zur See gefahren, hatte getrunken, geflucht, kein Interesse an Religion und Glauben gehabt. Zur Bekehrung kam Newton erst – so erzählt es Steve Turner in seinem maßgebenden Buch „The Story of America’s Most Beloved Song: Amazing Grace“ – als er 1748 im Alter von 22 Jahren mit seinem Schiff „Greyhound“ vor Irland in einen wilden Sturm geriet. Das Unwetter wütete beinahe zwei Tage und brachte die „Greyhound“ fast zum Sinken.

„Als ob das Evangelium wahr ist“

Newton habe in seiner Angst Gott angerufen und beschlossen, künftig so zu leben, „als ob das Evangelium wahr ist“, schrieb Turner. Damit habe ein langer Prozess der Bekehrung begonnen.

Mit der Abwendung von Sklaverei hatte das aber erst einmal nichts zu tun. Die weiße Christenheit in Europa und in den USA wollte zu dieser Zeit die Versklavung von Menschen aus Afrika als „von Gott gewollt“ sehen. In den USA blieb diese Haltung weit in das 19. Jahrhundert hinein erhalten. Der Handel mit versklavten Menschen war ein großes Geschäft.

Zwei Jahre nach seiner Errettung von der „Greyhound“ übernahm Newton das Kommando der „Duke of Argyle“, die von Oktober 1750 bis Mai 1751 insgesamt 174 Afrikaner verschleppte. 28 starben bei der Überfahrt, wie Turner dokumentiert.

Sklavenhandel abgeschafft

In seinem Buch „Thoughts Upon the African Slave Trade“ (Gedanken zum afrikanischen Sklavenhandel) beschrieb Newton 1788 die Zustände an Bord der Sklavenschiffe: Die Gefangenen wurden unter Deck so zusammengekettet, dass sie sich kaum bewegen konnten. „Ich habe gesehen, wie sie mit erbarmungslosem Auspeitschen bestraft wurden, bis die armen Kreaturen nicht einmal mehr stöhnen konnten“, schrieb Newton über Folterungen und Strafmaßnahmen bei Gefahr eines Aufstandes an Bord. Sein Herz „erschaudere“ beim Gedanken, selbst am Sklavenhandel mitgewirkt zu haben.

Aus gesundheitlichen Gründen konnte Newton nach 1754 nicht mehr zur See fahren und wollte Ernst machen mit seinem Glauben. Er bekam eine Kirchengemeinde in dem mehrere tausend Einwohner zählenden Ort Olney zugewiesen.

In England gewann gegen Ende des Jahrhunderts die Bewegung gegen Sklaverei an Stärke. 1807 wurde der Sklavenhandel schließlich verboten. Im selben Jahr starb Newton.