Als Johann Sebastian Bach nur dritte Wahl war

Eigentlich war es Zufall, dass am 7. Februar vor 300 Jahren eine musikalische Erfolgsgeschichte ihren Anfang nahm: Johann Sebastian Bach hatte sein Bewerbungskonzert als Thomaskantor in Leipzig.

Johann Sebastian Bach war Kantor der Nikolaikirche in Leipzig
Johann Sebastian Bach war Kantor der Nikolaikirche in LeipzigImago / Stefan Noebel-Heise

Vor 300 Jahren, am 7. Februar 1723, hatte Johann Sebastian Bach sein Bewerbungsgespräch in Leipzig für die Stelle als Thomaskantor. Der Köthener Hofkapellmeister führte zwei Kantaten auf, war aber dennoch zuerst nur dritte Wahl. Im Interview spricht der aktuelle Amtsinhaber Andreas Reize über Bachs Ambitionen, dessen musikalische Größe und die Frage, wie man bei solch einem Übervater bestehen kann.

Herr Reize, weiß man eigentlich, was Johann Sebastian Bach vor 300 Jahren bewogen hat, sich auf Ihre Stelle zu bewerben?
Andreas Reize: Wir wissen über die Ratsprotokolle zum Auswahlverfahren, dass Bach bestenfalls dritte Wahl war – Georg Philipp Telemann war der klare Favorit. Nach dessen Absage kam Christoph Graupner ins Spiel, der dann schließlich absagen musste. Leider fehlen die Passagen, warum Bach am Ende doch den Zuschlag bekam. Er bewarb sich ja aus seiner Stelle als Kapellmeister in Köthen heraus.

Er hatte da eigentlich alles: ein Profi-Orchester am Hof, ein professionelles Sänger-Ensemble, darunter auch seine spätere Ehefrau Anna Magdalena. Aber dann begann sein Dienstherr, Fürst Leopold von Anhalt-Köthen, immer mehr Schulden zu machen, heiratete eine wenig der Musik zugetane Frau – eine „Amusa“ wie Bach an Georg Erdmann schreibt – und die Hofkapelle wurde verkleinert. Da Bach aber weiterhin große Ambitionen hatte, bewarb er sich nach Leipzig. Wobei es ihm nicht behagte – auch das wissen wir aus dem besagten Brief – vom Kapellmeister zum Kantor zu werden.

Andreas Reize ist Thomaskantor der Leipziger Nikolaikirche
Andreas Reize ist Thomaskantor der Leipziger NikolaikircheImago / foto-leipzig.de

Also war Leipzig ein Abstieg für ihn?
Na, also der Titel Kapellmeister aus Köthen war ihm schon sehr wichtig, und er nannte sich in Leipzig auch weiter so. Nur Thomaskantor war ihm zu wenig. Finanziell hat er sich in Leipzig nicht unbedingt verbessert. Er begründete den Wechsel letztlich mit zwei Dingen: der familiären Situation – seine ältesten beiden Söhne begannen mit dem Studium, da bot sich die Studentenstadt Leipzig an. Zum anderen war sein musikalisches Hauptanliegen, Kirchenmusik zu Gottes Ehren zu schreiben. Und das konnte er mit der Leipziger Stelle bestens, anders als in Köthen.

Welche drei Stücke sollte man sich anhören, um ein Gefühl für Bachs Größe zu bekommen?
Ein zentrales Element waren für ihn die Tasteninstrumente, da empfehle ich zum Beispiel die Passacaglia in c-Moll für Orgel oder die Goldberg-Variationen für Cembalo (Klavier). Zweites wichtiges Instrument für ihn war die Solo-Violine – da ist mein Tipp die Chaconne in d-Moll. Und dann natürlich die Chorwerke. Ich finde zum Beispiel den Eingangschor der Matthäus-Passion mit seiner musikalischen Gewalt sehr eindrücklich oder den der Johannes-Passion.

In diesem Jahr feiert auch das Bach-Fest in Leipzig 300-jähriges Jubiläum. Würden Sie Bachs Musik eher als zeitlos oder als modern charakterisieren?
Beides. Bach ist gerade vom Theologischen her extrem zeitlos. Seine Verbindung von Text und Musik fordert uns bis heute jedes Mal aufs Neue heraus. In der Matthäus-Passion etwa begegnet uns ein sehr menschlicher Jesus, der mir auch nah ist, der extrem leidet und auch Unsicherheiten mit sich trägt.

In der Leipziger Nikolaikirche wirkte Johann Sebastian Bach
In der Leipziger Nikolaikirche wirkte Johann Sebastian BachImago / Schöning

Sie haben in einem Interview gesagt: ‚Ich kriege vor Bachs Genialität den Mund nicht zu.‘ Wie viel Freiraum lässt Ihnen dieser Übervater bei der musikalischen Gestaltung Ihres Jobs?
Viel, sehr viel. Wenn ich jetzt zum Beispiel die Johannes-Passion vorbereite, die in zwei Monaten ansteht, dann ist mein Schreibtisch voll mit Bibel, der Partitur, Quellen und ganz viel Literatur dazu. Ich befasse mich exzessiv damit und versuche Bach möglichst nahe zu sein, bis ich das Gefühl habe, ich bin voll von seiner Botschaft durchtränkt – und finde dann meine eigene Interpretation. Dann gehe ich meinen eigenen Weg. Ich zweifle oft in der Vorbereitung, aber wenn die Endfassung steht, dann habe ich für diesen Moment keine Zweifel mehr.

„Bach würde sich im Grabe umdrehen!“ – Wäre das die denkbar schlimmste Kritik an Ihrer Arbeit?
Das hat er vielleicht schon gemacht. Aber das ist für mich nicht schlimm. Ich denke, er war schon sehr kritisch, und man konnte es ihm wohl kaum recht machen. Davon berichten auch seine Schüler. Von dem her bin ich da ziemlich entspannt.