Als Erste über die Grenze
Dass Annemarie Reffert Geschichte geschrieben hat, erfuhr sie erst knapp zwei Jahre später. Anfang der 1990er Jahre suchte ein Historiker nach der Person, die am 9. November 1989 – die Nacht, in der die DDR die Grenzen öffnete – als erste den Grenzübergang Marienborn/Helmstedt passierte. Er forschte nach – und wurde fündig bei der damals 46-jährigen Reffert und ihrer zwölfjährigen Tochter.
Refferts sahen damals im Fernsehen die legendäre Pressekonferenz mit SED-Politbüromitglied Günter Schabowski, der die Grenzöffnung verkündete. Von ihrem damaligen Wohnort Gommern bei Magdeburg aus machten sich die beiden im „Wartburg“ auf den Weg – und trafen auf verdutzte Grenzer, die von der Grenzöffnung noch keine Ahnung hatten.
„Von Marienborn wurde gar nichts im Fernsehen gebracht“, erinnert sich Reffert im Gespräch mit dem Evangelischen Pressedienst (epd): „Ich wollte aber für mich wissen, ob man da durchkommt oder nicht.“ Denn der Grenzübergang Helmstedt/Marienborn, der heute zwischen Niedersachsen und Sachsen-Anhalt an der A2 liegt, war der größte an der innerdeutschen Grenze außerhalb Berlins. Mehrere Millionen Abfertigungen gab es dort jährlich für Westdeutsche, die in die DDR einreisen oder nach West-Berlin fahren wollten. Die Kontrollen wurden am 1. Juli 1990 endgültig eingestellt.
Etwas Angst und Herzklopfen hatte sie damals schon, erinnert sich Reffert. Als Notärztin kannte sie die Grenzanlagen und wusste, dass es vor dem eigentlichen Grenzübergang bereits zwei Kontrollen gab. Die ersten beiden Kontrollpunkte habe sie passieren können. Die Grenzer hätten in Ost-Berlin niemanden erreicht, von Schabowskis Verkündigung der Grenzöffnung hatten sie noch nichts gehört. Also ließen sie die beiden weiterfahren bis zum Übergang.
Dort hätten sie fast eine Viertelstunde warten müssen. Doch dann sei der Grenzer herausgekommen, habe ihnen die Pässe zurückgegeben und die Ampel auf Grün geschaltet. „Aus dem hell erleuchteten Grenzübergang sind wir ins Dunkle hineingefahren“, erzählt Reffert. Ihre Tochter habe plötzlich Angst bekommen. „Sie fragte, was passierte, wenn sie uns nicht mehr hereinlassen würden.“ Dass sie nicht im Westen bleiben wollte, sei für sie immer klar gewesen, betont die heute 81-Jährige.
Kaum hatten die beiden die Grenze nach Westdeutschland passiert, hätten bereits Reporter gewartet. Damals habe sie sinngemäß in die Mikrofone gesagt, es sei jetzt möglich, über die Grenze zu fahren, aber hier leben wolle sie nicht. Nach einer kurzen Runde durch das verschlafene Helmstedt in Niedersachsen drehte sie um und fuhr wieder zurück. Wieder hätten Reporter gewartet, aber diesmal wollte sie kein Interview geben.
Ihr Mann hatte eigentlich drum gebeten, ihm ein Dosenbier aus dem Westen mitzubringen. „Aber wir hatten keine D-Mark dabei“, erinnert sich Reffert. So kamen sie ohne Souvenir zurück. Verewigt ist die Geschichte durch ihren Sohn Thilo. Für den Mitteldeutschen Rundfunk (MDR) schrieb er 2009 das preisgekrönte Hörspiel „Die Sicherheit einer geschlossenen Fahrgastzelle“, in dem er die Geschichte der historischen Autofahrt seiner Mutter und seiner Schwester erzählt.
Seit 1996 ist der frühere Grenzübergang in Marienborn eine Gedenkstätte. Ralf Schwabe hat im Sommer dieses Jahres als Glaser mitgeholfen, eines der alten Abfertigungshäuschen zu restaurieren. Für ihn, der seit 15 Jahren in Helmstedt lebt, kamen dabei alte Erinnerungen hoch. In den 1980er Jahren habe seine Schwester in West-Berlin gelebt, die er häufig besucht habe.
Damals sei er Zeitsoldat bei der Bundeswehr gewesen – und musste jedes Mal die Transitreise durch die DDR anmelden, erinnert sich Schwabe im Gespräch. Und die Grenzer wussten offenbar genau, wen sie vor sich hatten: „Als ich damals bei der Marine zum Obermaat befördert worden bin, haben mich die Beamten beglückwünscht.“
Die Sanierung des alten Grenzhäuschens sei für ihn wie eine Zeitreise gewesen, erzählt Ralf Schwabe. „Da habe ich nochmals überlegt, wie lange ich hier gebraucht habe, bis ich endlich durch war. Dass ich eines Tages mal hier stehe und das wieder auf Vordermann bringe, das ist mir nie in den Sinn gekommen.“