Allem Augenschein zum Trotz

„Du bist ein Gott, der mich sieht“ – so lautet die Jahreslosung 2023. Eine Betrachtung zum Satz aus dem 1. Buch Mose vom EKD-Friedensbeauftragten Friedrich Kramer.

Eine Kerze der Hoffnung für das neue Jahr
Eine Kerze der Hoffnung für das neue JahrImago / ZUMA Wire

Im 16. Kapitel des ersten Mosebuches lese ich von einer Frau, die gesehen wird. Hagar heißt sie und ist eine Magd. Eine Sklavin. Eigentlich also keine, die daran gewöhnt ist, gesehen zu werden und Ansehen zu haben. Sie soll für ihre Herren Abraham und Sara, denen sie dienen muss, ihr erstes Kind zur Welt bringen. Die beiden können gemeinsam keine Kinder bekommen. Hagar wird stolz darauf, dass sie schwanger ist, und lässt die kinderlose Sara dies spüren. Sara tobt.

Wir können uns vorstellen, welche Dynamik diese Dreiecksgeschichte im Hause Abrahams entfaltet. Eifersucht, Hochmut, Angst, Zorn: heftige Gefühle allerorten. Abraham, der erst das Kind zeugt, überlässt es nun Sara, mit Hagar zu machen, was sie will. Hagar ihrerseits ist klar, dass sie keinen Schutz mehr hat, und sie flieht in die Wüste. Dort verdurstet sie fast.

Wasserquelle in der Wüste

Zum Glück entdeckt Hagar in der Wüste eine Wasserquelle, einen Brunnen. Völlig erschöpft löscht sie ihren Durst und sinkt verzweifelt zu Boden. Und da erscheint ihr ein Engel. Dreimal muss der Bote Gottes zu ihr sprechen, bevor sie selbst Worte findet. Dreimal macht er ihr Hoffnung und verspricht ihr, dass Gott sich ihr und ihrem ungeborenen Sohn zuwendet. Er verheißt ihnen eine Zukunft, allem Augenschein zum Trotz. Die jetzige Wüste ist nicht das Ende. Es gibt sogar eine Zukunft im alten Leben.

Verzweiflung, Streit auch in den Familien, Flucht und Wüstenzeit – was klingt bei Ihnen im Rückblick auf das vergangene Jahr aus dieser Geschichte an? Welche Sorgen erfassen unser Herz und halten unsere Augen, wenn wir in das ungewisse neue Jahr schauen? Dreimal muss vorher der Engel Hagar ansprechen. Einmal genügt nicht, wenn Not und Furcht nach uns greifen.

Friedrich Kramer ist Friedensbeauftragter der Evangelischen Kirche in Deutschland und Landesbischof der Evangelischen Kirche in Mitteldeutschland
Friedrich Kramer ist Friedensbeauftragter der Evangelischen Kirche in Deutschland und Landesbischof der Evangelischen Kirche in MitteldeutschlandFriedrich Kramer ist Friedensbeauftragter der Evangelischen Kirche in Deutschland und Landesbischof der Evangelischen Kirche in Mitteldeutschland

Und des Engels Stimme lässt Hagar aufhorchen und den Blick erheben. Es braucht freundlich Ansprache, Zuwendung und Zutrauen. Sie sind wie persönliche Schlüssel zu einem Herzen, das sich aus lauter Angst und Trauer verschlossen hat. Eine Tür geht auf. Die schwangere Hagar öffnet sich.

Der Engel gibt dem noch nicht geborenen Sohn der Hagar einen Namen: Ismael. Das heißt: Gott hört. Der Engel sieht schon die Zukunft mitten in der dunklen Gegenwart. Darauf reagiert Hagar und nennt ihrerseits Gott beim Namen: Du bist ein Gott, der mich sieht. El-Roi auf Hebräisch, kurz und bündig. Die Zukunft öffnet sich uns gemeinsam: Hagar und Ismael und Gott.

Vom Geist geführt

Hier in dieser Geschichte tut eine Frau – eine Sklavin, eine Fremde, eine Heidin – etwas, das nirgendwo sonst in der Bibel nochmals ein Mensch tun wird: Gott mit einem Namen benennen. Selbst Mose muss, als er am brennenden Dornbusch dem Gott Abrahams, Isaaks und Jakobs wieder begegnet, nach dessen Namen erst fragen. El-Roi, der Gott, der ansieht – welch ein Trostwort für das neue Jahr.

Die Wüste spielt eine herausragende Rolle in der Bibel, nicht nur für Hagar. Die Wüste ist dabei zum einen ein Bild für Einsamkeit, Verlassenheit, Öde, Hilflosigkeit, dafür, dass man sich preisgegeben fühlt. Aber es ist auch der Ort, an dem Gott dem Menschen begegnet. Gott scheint den Menschen mit Vorliebe in die Wüste zu führen. In der Wüste wird Moses berufen, Elias wunderbar gestärkt, bereitet sich Johannes der Täufer auf seine Sendung vor. Christus wird vom Geist in die Wüste geführt. Paulus verbringt nach seiner Berufung drei Jahre in der Wüste.

Wo der Mensch am Ende ist

Gott lässt sich wohl am ehesten dort treffen, wo der Mensch am Ende ist. Im Erlebnis der eigenen Nichtigkeit erfährt der Mensch die Hilfe Gottes. Hagar erfährt genau das in der Wüste. Für sie wird die Wüste gleich zweimal zur großen Chance ihres Lebens. Ein zweites Mal ist sie verzweifelt in der Wüste, verstoßen mit Ismael, und will nicht ansehen müssen, wie ihr Kind verdurstet. Doch Gott, der ansieht, hilft, und sie findet einen Brunnen in der Wüste und ihr Sohn wird gerettet.

Ismael wird der Stammvater der Araber und der Sohn der Sara, der doch noch durch ein Gotteswunder geboren wird, heißt Isaak und wird zum Stammvater des jüdischen Volkes. Zwei Söhne, die in Streit sind, zwei Völker, die sich bis heute nicht freundlich ansehen. Wie kann es nach Krieg und Gewalttaten, wie kann nach Hass und Verachtung, nach Wüstenzeit der Beziehungen gelingen, einander wieder anzusehen, so wie Gott uns ansieht?

Das fragen wir gerade auch mit dem Blick in die Ukraine mit Sorge. Wann endet der Brudermord endlich? Wann schweigen die Waffen und wann werden sich die Feinde wieder ansehen können? Zuerst muss sich der Blick ändern. Gott sieht die Brüder beide an, so wie er Hagar angesehen hat. Der Gott, der uns alle liebevoll ansieht, ist ein Gott des Friedens, der meinen Feind genauso ansieht wie mich.

Beständig den Menschen zugewandt

Ich staune über die biblischen Geschichten, die uns erzählen, wie beständig der liebende Gott sich den Menschen zuwendet. Am liebsten denen, die am Rand stehen. Die verschwunden sind, vergessen wurden. Er sieht sie, genau sie, die sonst übersehen werden oder am besten ganz verschwinden sollen. Wo wir wirklich hinsehen und angesehen werden, da verändert sich etwas.

Ich wünsche Ihnen im neuen Jahr, dass Sie in den Trostsatz der Hagar einstimmen können: „Du bist ein Gott, der mich sieht.“

Unser Autor
Friedrich Kramer ist Friedensbeauftragter der Evangelischen Kirche in Deutschland und Landesbischof der Evangelischen Kirche in Mitteldeutschland.