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Ärztekammer-Vorstand sieht Enttabuisierung psychischer Erkrankungen

Der Psychiater Hans Martin Wollenberg beobachtet eine zunehmende gesellschaftliche Enttabuisierung von psychischen Erkrankungen. „Ich nehme wahr, dass immer mehr Menschen den Mut haben, offen mit eigenen seelischen Problemen umzugehen“, sagte das Vorstandsmitglied der Ärztekammer Niedersachsen im Gespräch mit dem Evangelischen Pressedienst (epd).

Viele Statistiken erweckten den Eindruck, als hätten Störungen wie Depressionen drastisch zugenommen. Derartige Zahlen seien zumindest teilweise mit Vorsicht zu betrachten, betonte Wollenberg. „Gestiegene Sensibilität im Umgang mit psychischen Beeinträchtigungen und ein zunehmend angstfreier Blick auf das System Psychiatrie haben sicher dazu beigetragen, dass heute viele Menschen zu Psychiatern und Psychotherapeuten gehen, die sich früher womöglich nicht getraut hätten.“ Zudem würden psychische Beeinträchtigen heute häufiger diagnostiziert als in der Vergangenheit. Faktoren wie diese könnten zu dem womöglich trügerischen Eindruck beitragen, die Gesellschaft werde „psychisch immer kränker“.

Wollenberg bemängelte, dass vielen Menschen mit psychischen Problemen nicht immer schnell und kompetent genug geholfen werde. Selbst unter Ärzten fehle es mitunter an psychiatrischen Grundwissen, um zu erkennen, dass körperliche Beschwerden durchaus auch ein Fall für Psychiater und Psychotherapeuten sein könnten. „Manche Depression äußert sich fast ausschließlich somatisch, etwa in unspezifischen Schmerzen, und wird deshalb nicht oder erst spät erkannt“, erläuterte der Facharzt, der auch Vorsitzender des niedersächsischen Landesverbandes der Ärztegewerkschaft Marburger Bund ist.

Angesichts der Häufigkeit psychischer Erkrankungen sei es deshalb wichtig, auch Ärzten anderer Fachrichtungen, etwa durch Fortbildungen, hinreichend Know-how zu vermitteln, um Patientinnen und Patienten im Bedarfsfall schnellstmöglich an einen Psychiater überweisen zu können. „Gerade bei Depressionen, die in manchen Fällen chronisch werden können, ist eine frühzeitige Behandlung entscheidend“, unterstrich Wollenberg.

Zudem mache sich der Fachkräftemangel auch im Arztberuf und dort insbesondere in der Fachrichtung Psychiatrie bemerkbar. „Das ist bedauerlich, denn unser Fach ist gewissermaßen das Bindeglied zwischen Psyche und Körper, das macht es so spannend und vielseitig“, sagte Wollenberg. Er verwies auf die großen Fortschritte, die in den zurückliegenden Jahrzehnten etwa bei der Behandlung von Depressionen erzielt worden seien.

„Heutige Antidepressiva sind weitaus effektiver und nebenwirkungsärmer als frühere Präparate“, betonte der Mediziner. Auch im psychotherapeutischen Bereich habe sich viel getan. „Viele Menschen mit psychischen Erkrankungen leben auch dank dieser ausgeklügelten Behandlungsverfahren weitaus beschwerde- und leidensärmer als noch vor einigen Jahren.“