80. Jahrestag des Kriegsendes: Ein kollektives Tagebuch

Volker Heise ist Filmemacher. Seinem neuen Buch über das Jahr 1945 merkt man das an. Er lässt die Zeitzeugen erzählen und viele Perspektiven zu Wort kommen. Eine spannende Collage über ein Wendejahr deutscher Geschichte.

Das ist ein Geschichtsbuch der besonderen Art: Wenn im kommenden Jahr all die Gedenktage im Zusammenhang mit dem Ende des Zweiten Weltkriegs begangen werden, kann Volker Heises neues Buch “1945” spannende Begleitmusik liefern.

Heise, geboren 1961 im niedersächsischen Hoya, ist kein Historiker, sondern Regisseur, Dramaturg, Produzent und Dokumentarfilmer. Das merkt man seinem Buch an. Denn er analysiert nicht, sondern liefert eine spannende Collage aus Archivmaterial, Augenzeugenberichten, Tagebüchern, Briefen und Erinnerungen. “1945” gleicht einem Drehbuch zu einem Dokumentarfilm.

Ein Jahr zwischen Katastrophe und Neuanfang. Geordnet ist das Buch chronologisch: Es beginnt am 9. Dezember 1944 und endet am 31. Dezember 1945. Erzählt wird aus den Blickwinkeln der Zeitgenossen. Deutsche, Russen und Amerikaner, einfache Bürger, Soldaten, Journalisten, Politiker, Zwangsarbeiter, Untergetauchte, Verbrecher und Helden kommen zu Wort. Ein Chor aus vielen Stimmen. Ein kollektives Tagebuch.

Ein Mosaik, das den Bericht des Auschwitz-Häftlings neben den Tagebucheintrag von Propagandaminister Joseph Goebbels und die sehnsuchtsvollen Wünsche eines Berliner Teenagers nach Kino und Tanzabenden gleichberechtigt neben beeindruckende Abschiedsworte des Widerstandskämpfers Helmuth James Graf von Moltke aus dem Gefängnis stellt.

Die großen politischen und militärischen Ereignisse sind so wichtig wie das darunter liegende Massiv des Alltags: die täglichen Bombenangriffe, die sich zuziehende Schlinge um Berlin, die jüdische Berlinerin, die ihrem Mann Briefe schreibt, sie aber nicht abschicken kann, weil sie nicht weiß, ob er noch lebt. Oder die jungen Soldaten, die beim Fotografen noch ein Foto von sich machen lassen, ehe sie zur Front ziehen.

Fanatismus und Angst, Gleichgültigkeit und Hoffnung: Heise verwebt Stimmen, Beobachtungen und Geschichten zu einer dichten und eindringlichen Erzählung. Banales steht neben Historischem: Der Schriftsteller Erich Kästner hat dieses Nebeneinander in einem Eintrag aus dem April 1945 sehr bildlich zusammengefasst. “Bergfrühling und Flüchtlinge, die auf dem Heuboden schlafen; Maikäferepidemie und Flugzeuggeschwader, die man aus den Wolken aufblinken sieht…Sommerfrische und Untergang des Abendlandes”.

Heises Montagetechnik führt dem Leser auch die Doppelgesichtigkeit des Wendejahres 1945 vor Augen: das Kriegsende als Niederlage und gleichzeitig als Befreiung. Und dann gibt es neben dem Neubeginn auch eine starke Kontinuität. Die Leute hören schließlich nicht auf, zu sein, wer sie sind, was sie erlebt und gelernt haben. “Diese Mischung aus einem harten Bruch bei gleichzeitiger Kontinuität, die habe ich versucht in dem Buch zu erzählen”, sagt der Autor.

Deutlich wird dabei: Für viele Zeitzeugen spielen die aus heutiger Perspektive wichtigen Zäsuren des Jahres 1945 gar nicht die große Rolle: Der 27. Januar, die Befreiung von Auschwitz zum Beispiel, Hitlers Suizid am 30. April, die Kapitulation der Wehrmacht am 8. Mai. “Eine große Rolle spielt, wie überlebe ich das Ganze? Wie gehe ich jetzt mit meinem neuen Alltag oder mit meinem alten Alltag um?”, sagt Heise.

Der Autor hat das Buch seinen Eltern gewidmet, die beide Kriegskinder waren und erst spät über ihre Erlebnisse erzählt haben. “Meine Mutter hat sogar erst kurz vor ihrem Tod erzählt, was sie in der Zeit erlebt hat”, berichtet er in Interviews.

Heise Arbeiten wurden vielfach ausgezeichnet: die Fernsehserie “Schwarzwaldhaus 1902” mit dem Grimme-Preis, ebenso die Serie “Zeit der Helden”. Die Produktionen “24 h Berlin – Ein Tag im Leben” und “24 h Jerusalem” wurden unter anderem mit dem Deutschen Fernsehpreis ausgezeichnet. In den Filmen “Berlin 1945 – Tagebuch einer Großstadt” und “Berlin 1933” hat er sich einer ähnlichen Montagetechnik bedient wie im neuen Buch.