50 Jahre nach dem Putsch: Chile kämpft gegen Pinochets Erbe

1973 endete die demokratische Hoffnung Chiles in einer Diktatur. Bis heute sind viele Verbrechen nicht aufgeklärt. Und doch befürwortet in einer Umfrage jeder dritte Chilene den Putsch.

Projektion von verschwundenen Häftlingen des Pinochet-Regime in der Hauptstadt Santiago
Projektion von verschwundenen Häftlingen des Pinochet-Regime in der Hauptstadt SantiagoImago / ZUMA Wire

Vor 50 Jahren putschte das Militär in Chile und errichtete eine der gewalttätigsten Diktaturen in Lateinamerika. Die Junta mit Augusto Pinochet an der Spitze blieb an der Macht, bis ab 1988 die Demokratisierung des Landes einsetzte. Die Wunden aus dieser Zeit sind auch heute noch tief – viele der Gräueltaten wurden bislang nicht aufgearbeitet. Das Schicksal von fast 1.500 Opfern ist noch ungeklärt. Offiziell wurden 3.000 Menschen während der Diktatur getötet, mehr als 27.000 wurden in Gefängnisse gesteckt und gefoltert.

Das Gedenken an den 50. Jahrestages des Militärputsches zeigt aber auch die Zerrissenheit des Andenlandes. In einer aktuellen Umfrage befürworteten 36 Prozent der Befragten den Militärputsch. 41 Prozent nannten den Staatsstreich gegen den rechtmäßig gewählten Präsidenten Salvador Allende falsch. Das Bemerkenswerte an der Umfrage: Sie wird seit 20 Jahren durchgeführt und die Zahl der Befürworter des Putsches steigt in der Bevölkerung mit jedem Jahr. Vor allem junge Menschen wollen sich mit dem Diktatur-Erbe nicht länger auseinandersetzen. „Wir müssen Brücken zur jungen Generation bauen, die den Putsch als weit weg ansieht“, sagt Chiles linksgerichteter Präsident Gabriel Boric.

Präsident Allendes letzte Worte

Im Morgengrauen des 11. September 1973 stürmte das Militär aus den Kasernen. Oberbefehlshaber Pinochet ließ eine Erklärung im Radio verlesen, dass jetzt eine Militärregierung die Macht übernehme. Gegen 11 Uhr wandte sich Allende über Radio an die Bevölkerung – es sollte seine letzte Rede sein. „In diesem düsteren und bitteren Augenblick, in denen sich der Verrat durchsetzt, sollt ihr wissen, dass sich früher oder später, sehr bald erneut die breiten Avenidas auftun werden, auf denen der würdige Mensch dem Aufbau einer besseren Gesellschaft entgegengeht“, sagte der sozialistische Staatschef.

Das Militär putschte sich in Chile 1973 an die Macht
Das Militär putschte sich in Chile 1973 an die MachtImago / United Archives International

Kurz danach wurde der Präsidentenpalast La Moneda von Hubschraubern angegriffen und schwer beschädigt. Allende lehnte einen Rücktritt ab. Später wurde er von Militärs mit einer Schusswunde in seinem Büro tot aufgefunden. Sie gaben bekannt, dass er Selbstmord begangen habe.

Hinrichtungen im Fußballstadion

Im Nationalstadion von Santiago de Chile trieben die Putschisten rund 40.000 Menschen zusammen, folterten sie und richteten und viele von ihnen hin. Drei Monate lang diente das Stadion als Konzentrationslager. Zusammen mit Hunderten Studenten und Universitätsdozenten wurde im Westen der Stadt auch der bekannte Liedermacher Victor Jara in einem kleineren Stadion interniert. Nach der hämischen Aufforderung, er solle noch einmal seine Stimme erheben, sang Jara „Venceremos“ – „Wir werden siegen“. Er wurde mit Maschinengewehrsalven umgebracht.

Vor allem die ersten Monate nach dem Staatsstreich jagte das Militär erbarmungslos Regimekritiker. In der beschaulichen Straße Londres im Zentrum von Santiago de Chile verbarg sich hinter der Nummer 38 die größte Folterkammer der Militärs. Erika Hennings hat dafür gekämpft, diesen Ort, an dem sie selbst gefoltert wurde, in eine Gedenkstätte zu verwandeln. Ihren Ehepartner Alfonso Chanfreau sah sie 1974 das letzte Mal. Agenten der Geheimpolizei zerrten ihn aus der gemeinsamen Wohnung. Bis heute weiß sie nicht, was mit ihm passiert ist. Sie selbst flüchtete nach ihrer Gefangenschaft ins Exil nach Frankreich. Ihr Schicksal steht für das vieler Angehörigen von Opfern.

Andauernder Kampf um Aufklärung

„Ich bin eine Aktivistin in Sachen Erinnerung und Menschenrechte“, sagte Hennings, die heute die Gedenkstätte leitet, in Interviews. „Ich habe das Gefühl, dass wir mit diesem Projekt einen Beitrag zur Gerechtigkeit, zur Wahrheit und zum Kampf für die Rechte leisten wollen, denn die Erinnerung ist politisch.“ Wie andere Hinterbliebene kämpft sie für eine Aufarbeitung der Diktaturverbrechen, für Gerechtigkeit. Lange haben sie dafür keine Unterstützung vom Staat bekommen.

Die aktuelle linksgerichtete Regierung treibt jetzt mit einem offiziellen Projekt die Suche nach den Überresten von 1.469 Menschen voran, die offiziell noch als vermisst gelten. Doch es geht um viel mehr. „Es geht nicht darum, nur die Überreste zu finden“, sagt Justizminister Luis Cordero Vega. Es gehe um die Aufklärung der Umstände, warum dieser Mensch verhaftet wurde und verschwand. „Das sind Informationen, die die Gesellschaft bis heute nicht bekommen hat.“ Erstmals wird auch das Militär aufgefordert, seine Archive zu öffnen und alle Informationen herauszugeben.

Fatale deutsche Beteiligung

Auch nach der Rückkehr zur Demokratie wiegt das Erbe der Diktatur in Chile schwer. Als Pinochet am 11. März 1990 zurücktrat, gab es keinen harten Bruch, sondern ein Übereinkommen mit den Militärs. Mit einem Amnestiegesetz hatten die Generäle vorgesorgt: Taten zwischen 1973 und 1978 konnten lange Zeit nicht bestraft werden. Damit verhinderten sie auch eine gesellschaftliche Aufarbeitung der von ihnen begangenen Verbrechen.

Erst in den vergangenen Jahren änderte sich die Rechtsprechung. Militärs, denen Folter und Hinrichtungen nachgewiesen werden konnte, wurden zu langen Haftstrafen verurteilt, wie vor kurzem die Verantwortlichen für den Mord an Victor Jara.

An der Vorbereitung des Putsches, der schließlich Diktator Augusto Pinochet an die Macht brachte, hat sich nach ARD-Recherchen offenbar auch der Bundesnachrichtendienst (BND) beteiligt – durch geheime Waffenlieferungen über die deutsche Sekte „Colonia Dignidad“ an die Gegner von Allende.